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Der falsche Auserwählte (Ein Artesian Roman) (German Edition)

Der falsche Auserwählte (Ein Artesian Roman) (German Edition)

Titel: Der falsche Auserwählte (Ein Artesian Roman) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Merten
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hieb die Axt mit Macht durch die zähe Rinde. Die Ulme schrie. Der Ast zerbrach in seiner Hand. Verblüfft sah er auf das gesplitterte Holz in seiner tauben Hand. Die Axt war ein Ast. Er hatte lediglich mit einem trockenen Stück Holz auf die Ulme eingedroschen, aber dort, wo er den Baum getroffen hatte, war die Ulmenrinde zerstört.
    „Das ist alles, was du kannst, Mensch“, sagte der Silberahorn mit tiefer, ruhiger Stimme. Es klang wie eine endgültige Feststellung. „Zum zweiten Mal hast du versagt. Du hast nichts gelernt. Von den wenigen, die sich je der Prüfung gestellt haben, bist du der Unwürdigste.“
    Kwin sah sich um. Twist lag noch immer reglos da. Das Rauschen und Wispern um ihn herum hatte zugenommen. Erst jetzt bemerkte er, dass in diesem Wald Bäume zusammen standen, die nicht beieinander stehen durften und in dieser Ordnung auch in keinem Wald seiner Heimat zu finden waren. Buchen vertrugen sich nicht gut mit dem Ahorn oder gar der Linde und doch standen sie hier nur wenige Schritte vor ihm und hatten ihre Äste zu einer undurchdringlichen Wand miteinander verknotet. Nach einer langen Pause vernahm Kwin die Stimme einer Lärche, deren nadelbesetzte Äste und Zweige tief herabhingen und es sollte das letzte Mal in seinem Leben sein, dass eine Lärche zu ihm sprach.
    In ihrer Stimme lag ein Knistern von Laub, das man zwischen den Händen zerreibt. „Ich wurde ausgewählt, dein Urteil dir kundzutun. Höre, Mensch, was der Wald für dich bestimmt hat: dein Tier wird genesen. Seine Zeit ist noch nicht gekommen, sein Schicksal nicht erfüllt. Du aber wirst den Nachtwald nicht wieder verlassen, bis deine Schuld gesühnt ist. Dreißig Tage nach der Zeitrechnung deiner Welt werden dir gewährt, deine Ehre wiederzuerlangen, das letzte Geheimnis zu entdecken. Scheiterst du, wirst du dem Menschentod überantwortet. Bist du erfolgreich, wirst du dich der Prüfung des Auserwählten stellen.“
    Kwin stand völlig reglos und nahm das Urteil des Waldes stumm entgegen. Er betrachtete die Stelle, an der er den Baum getroffen hatte. Die Rinde war aufgeplatzt und helles Holz schimmerte darunter. Flüssigkeit trat aus der Wunde. Kwin sah, was er angerichtet hatte, und wollte es nicht glauben. Er, der Baumbehüter und Baumfreund genannt worden war, hatte in einem einzigen Moment des Zorns alles vergessen, was ihm wichtig war.
    Unsichere, tapsende Schritte rissen ihn aus seinen entsetzten Gedanken. Kwin drehte sich um und erkannte Twist, der sich kaum auf den Beinen halten konnte, sich aber mit schwerfälligen Schritten der Ulme näherte. Als er sie erreicht hatte, senkte er seinen Kopf und leckte die Flüssigkeit auf, die unter der Rinde hervor sickerte. Dann knickten seine Beine unter ihm weg und er schlief ein.
    Kwin legte Twist prüfend die Hand auf die Brust. Das Herz des Tieres schlug noch. Twist lebte. Erleichtert stand er langsam wieder auf und sah in die Runde. „Danke!“, sagte er leise. Dann drehte er sich um kehrte zu seiner Lichtung zurück. Die Bäume öffneten eine schmale Gasse für ihn.
     
    Twist wurde tatsächlich wieder gesund. Er begleitete Kwin oft auf dessen täglichen Wanderungen. Doch niemals wieder rührte er eine der Früchte an, die Kwin ihm reichte. Von Zeit zu Zeit verschwand der Wolfshund für mehrere Stunden und kehrte ausgeruht wieder zurück. Wo er diese Stunden verbrachte und was er tat, fand Kwin freilich nicht heraus, aber er konnte es sich denken.
    Fünfzehn Tage waren vergangen, seit die Lärche zu Kwin gesprochen hatte und er war keinen Schritt weitergekommen. Er hatte seinen Schlafplatz mehrere Male verlegt, was aber nichts eingebracht hatte. Für ihn war es eine schwere Zeit. Er, der es gewohnt war, sich mit Pflanzen und Bäumen auszutauschen, erlebte zum zweiten Mal in seinem Leben das beharrliche Schweigen derer, die sein Leben als Handwerker und als Mensch bestimmten. Holz, Wald und Baum bedeuteten ihm alles, und mehr denn je, seit er die Ulme willentlich verletzt hatte. Er fühlte sich einsam, ohne Halt in einer Welt, in der er ein Außenseiter war. Twist war der einzige Lichtblick in seinem erbärmlichen Dasein, dass er auf Geheiß des Waldes führen musste. Oft dachte er an Lisett, an Alep und Wigget. Seine Welt war voller Menschen gewesen, voll schillernder Persönlichkeiten von aufrechter Gesinnung, Mut und Würde, die auch sein Leben bereichert hatten. Sie besaßen all jene Eigenschaften, die auch er einmal besessen und die die Bäume ihm und auch er selbst sich nun

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