Der falsche Auserwählte (Ein Artesian Roman) (German Edition)
der Weissagung, der ich mich stellen muss?“, fragte Kwin.
Der alte Magier kratzte sich ausgiebig den Kopf und presste seine Lippen fest aufeinander. Dann hob er entschuldigend die Schultern. „Ich weiß nicht, was dich dort erwartet. Keiner ist bisher zurückgekommen. Deine Vorgänger sind allesamt im Nachtwald gescheitert.“ Er begegnete Kwins forschendem Blick. „Ich habe dich auf diesen Moment vorbereitet. Meine Aufgabe ist erfüllt. Die Meisterschaft der wahren Tischlerei ist der Abschluss deiner Lehrjahre. Das Geschenk der Bäume ist eine besondere Gabe an dich. Du sollst Träger der letzten Geheimnisse des wahren Handwerks sein. Nutze diese Zeit, Kwin Bohnthal. Die Suche nach dem Einen wird dir den Weg zur Prüfung des Auserwählten ebnen, so steht es geschrieben.“
Kwin sah unsicher zum Waldrand. „Aber was ...“
„Ich weiß es nicht!“, schrie der alte Magier wütend. „Ein halbes Dutzend Auserwählte haben es bis zu mir geschafft. Ich habe sie alle gelehrt, was sie wissen mussten.“ Rodgatt atmete tief ein und ruhiger fuhr er fort: „Keiner von ihnen war wie du ein Handwerker, aber jeder einzelne besaß neben seiner magischen oder kriegerischen Begabung eine ausgeprägte Fertigkeit, Holz zu bearbeiten. Bei dir aber ist es umgekehrt. Du bist ein Tischler des wahren Handwerks, begabt und klug, doch gegen einen Magier vom Range eines Pretorius oder gegen seine Krieger wirst du niemals bestehen können. Wie auch immer – du bist bereit. Wie die wenigen, denen vor dir diese Ehre zuteil wurde, wirst auch du dieses letzte Geheimnis erforschen. Danach wirst du dich der Prüfung stellen. Ich werde hier sein, wenn du zurückkehrst.“ Rodgatt lächelte aufmunternd und sagte: „Nimm diesen Rat von mir: verschwende keinen Gedanken auf die Erfüllung der Prophezeiung, bis du das Rätsel um das Geschenk der Bäume gelöst hast. Befreie dein Herz, Kwin Bohnthal. Befreie es von allen Grundsätzen, die bislang dein Leben bestimmt haben. Sieh sorgsam in deine Seele und bleibe aufrichtig dabei. Wenn du diesen Rat außer Acht lässt, wirst du im Nachtwald zugrunde gehen.“
Kwin betrachtete den alten Mann lange. Er wollte es kaum glauben, aber in seinem aufrechten Herzen regte sich eine seltsame, nie gekannte Furcht. „Wie kann ich mich vor dem Wächter des Meistermagiers schützen?“
„Der Wald wird dich vor ihm bewahren. Niemand wird dir dort drinnen gefährlich werden, außer du dir selbst.“
Kwin nickte, dann atmete er tief ein und vergewisserte sich, dass seine wenigen Werkzeuge gut befestigt am Gürtel hingen. Aber Rodgatt hielt seine Hand fest. „Das wirst du nicht brauchen, nichts davon.“
Kwin begegnete dem mitfühlenden Blick des alten Mannes und verstand, was er nicht sagen konnte. Er löste die Werkzeuge vom Gürtel und legte sie ins Gras. Langsam richtete er sich wieder auf. Er wollte noch etwas sagen, aber Rodgatt schüttelte nur stumm den Kopf. Kwin drehte sich bedächtig zum Waldrand und spähte in das Halbdunkel, das gleich hinter den ersten Bäumen begann. Wenn er dort hineinging, würde er entweder mit dem Geschenk der Bäume zurückkommen oder gar nicht. Das war es, was Rodgatt ihm nicht hatte sagen können.
Kwin ging ziellos durch den dunklen Nachtwald und sah sich aufmerksam um. Er spürte die Anwesenheit der Bäume, ihre Präsenz, wie die von Mensch und Tier. Denkende, fühlende Wesen, die keinem anderen Leben nachgestellt waren. Ein kaum wahrnehmbares Raunen und Wispern umgab ihn, ähnlich einer unbekannten Melodie, und hätte er es nicht besser gewusst, hätte er diese Geräusche als vom Wind verursacht abgetan, der durch Blätter und Baumkronen strich.
Die Bäume in diesem Wald waren älter als alle, die er von zu Hause kannte. Ihre Rinde war gefurcht und stellenweise grau, mit tiefen Rissen, schrundig und spröde, mit langen Kerben, die sich vom Waldboden bis hinauf unter die ersten kräftigen Äste erstreckten.
Während er sich vorsichtig seinen Weg durch dicht stehende Ulmen, Eschen, Eichen, Buchen und Linden suchte, erinnerte er sich an die Monate im Spahnwald, als er versucht hatte, ihre Sprache zu erlernen. Wie schwer war ihm das damals gefallen. Und nun sah er sich einer Aufgabe gegenüber, die ungleich schwerer schien und von der er nicht einmal wusste, ob er sie überhaupt bewältigen konnte. Aber er vertraute Rodgatt und er gehörte auch nicht zu jenen, die sich schnell entmutigen ließen und schon bald schritt er zügiger aus, stapfte durch Busch und Kraut
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