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Der falsche Auserwählte (Ein Artesian Roman) (German Edition)

Der falsche Auserwählte (Ein Artesian Roman) (German Edition)

Titel: Der falsche Auserwählte (Ein Artesian Roman) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Merten
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verabschiedet. Damals, als er aus dem Spahnwald zurückgekehrt war, hatte er mit aller Ernsthaftigkeit behauptet, dass er nie wieder leichten Herzens eine Axt in einen Baum treiben könnte. Und dann hatte er hier einen belebten Baum, der zuvor vielleicht Drache, Troll oder Zwerg gewesen war, in grenzenloser Wut verletzt. Er schüttelte unglücklich den Kopf. Wäre er seinem Vorsatz von damals treu geblieben, dann wäre es nie soweit gekommen.
    Gleichwohl gab es für einen Tischler wie ihn keine andere Möglichkeit, als belebte Bäume zu fällen, um das so wichtige magische Holz zu erhalten, das die Grundlage für sein Handwerk bildete, und auch wenn der Wald ihm mit seinen abgestorbenen Ästen und Zweigen eine Möglichkeit zu schnitzen bot, war das nicht dasselbe. Nur die Bäume wären fortan unberührt geblieben und hätten ...
    Mit einem Satz sprang Kwin auf die Beine. Das ist es, dachte er erschüttert. Mit schnellen Schritten lief er über die Lichtung, rannte schließlich und erreichte eine Eiche, umfasste ihren Stamm mit beiden Armen und presste die Handflächen fest gegen die Rinde. „Ich weiß es jetzt“, sagte er leise. „Keiner, der das wahre Handwerk ausübt, fällt einen Baum. Das wahre Handwerk zeichnet sich dadurch aus, dass es zuletzt nicht ausgeübt wird.“ Kwin machte eine Pause und suchte nach den richtigen Worten. „Ich, Kwin Bohnthal, ich bin kein Baumbehüter. Im Gegenteil. Das Vermögen, mich mit den Bäumen meiner Welt zu verständigen, hätte mir zeigen müssen, dass ich mein Handwerk dann am besten ausübe, wenn ich es nicht ausübe. “
    Die Eiche schwieg, aber Kwin wusste, dass er gehört worden war.
    „Du sprichst wahr und wahrhaftig, Mensch. Deine Schuld ist abgetragen da du die Seele und das Geheimnis des Gleichklangs und nicht zuletzt auch deines Handwerks entdeckt hast.“
    „Ja“, erwiderte Kwin glücklich. „Und noch etwas weiß ich jetzt. Das Geschenk der Bäume wird nicht genommen, sondern gegeben. Und zwar von jenen, die wie ich sich dem wahren Handwerk verpflichtet haben. Es ist das Geschenk der Menschen an die Bäume.“
    „Doch Menschen und Bäume sind seit Äonen aneinander gebunden, so wie Berg und Tal“, widersprach die Eiche, „Gefesselt an den Ort, an dem unser Samen fiel, wachsen und bleiben wir, bis wir sterben oder durch euch Menschen in eine andere Daseinsform überführt werden. Die Menschen haben gelernt, dass sie ohne uns weniger sind und haben begonnen, im Einklang mit uns zu leben. Doch für dich, Tischler, bleibt bestehen, was schon immer galt. Dir wurde das letzte Mysterium offenbart. Zu wissen, was nur wenige vor dir wussten, lässt dir die höchste aller Ehren zuteil werden. Das Geschenk der Bäume an die Menschen als Ausgleich für das der Menschen an uns. Nimm diese Gabe, Tischler, nimm sie auch künftig und allzeit von meinen Brüdern und Schwestern, die zu geben bereit sind und wisse, dass der uralte Bund zwischen Baum und Mensch heute durch dich und mich erneuert wurde. Nimm dieses Geschenk als ein Zeichen des Dankes, der du mit dem Herzen sehen kannst, was den Augen verborgen bleibt. Öffne deine Hand.“
    Kwin trat einen Schritt zurück und tat, was die Eiche verlangte. Er streckte seine geöffnete Hand aus, es knackte kurz über ihm und im nächsten Augenblick fiel ein kleines Zweiglein hinein.
    „Das ist es, was ich dir gebe. Behandele es mit Sorgfalt und Respekt.“
    „Das werde ich“, versprach Kwin. Aber er wusste nicht, was er mit dem kleinen Zweig tun sollte.
    „Sing mir und meinen Geschwistern ein Lied, Tischler“, forderte die Eiche. „Eines deiner Baumlieder.“
    „Ich soll singen?“, fragte Kwin verblüfft. Dann zuckte er die Schultern und lächelnd sagte er: „Warum nicht.“ Ihm war nach jubeln zumute und entsprechend klang sein Lied. Kwin sang lange, bis er endlich auch das letzte Stück, das er kannte, beendet hatte.
    Die Eiche unterbrach ihn nicht ein einziges Mal. „Sehr schön“, lobte sie schließlich, „aber weißt du auch, welche Bedeutung diese Worte haben?“
    Kwin schüttelte den Kopf. „Nein!“
    „Ich dachte es mir. Die alte Sprache ist wie so vieles andere auch in Vergessenheit geraten. Und nun gib Acht, was ich dich lehren werde. Öffne deinen Geist, Mensch, denn heute wird dir ein neuer Horizont erschlossen. Höre!“
    In den darauffolgenden Stunden erfuhr Kwin staunend und mit angehaltenem Atem, welche Bedeutung seine Lieder hatten. Er verstand es nicht genau, aber so, wie die Eiche mit

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