Der falsche Auserwählte (Ein Artesian Roman) (German Edition)
gleiten, bis das längere Ende rechts von ihm war. Mit der gleichen Bewegung wie zuvor drückte er das Stockende heftig nach vorn. Der Stoß zielte gegen Aleps rechtes Schienbein. Aber das Bein seines Enkels war nicht mehr da. Alep hatte den Angriff erkannt und sich schnell weiterbewegt. Nun stand er fast seitlich von Opa Elders. Er ließ seinen Stock kreisen und führte einen Schlag gegen die ungedeckte rechte Schulter seines Großvaters. Opa Elders knickte leicht ein, stemmte das Stockende auf den Boden und schob den aufgerichteten Stab in seiner ganzen Länge dem Schlag seines Enkels entgegen. Wuchtig krachten die Stöcke aufeinander. Mit heftigen Angriffen trieb Alep nun seinen Großvater vor sich her. Opa Elders hatte Mühe, seine Verteidigung aufrechtzuerhalten. Dann machte Alep einen Fehler, und das Geschehen verlagerte sich zu Opa Elders Gunsten. Nun war er es, der seinen Enkel mit ebenso kräftigen Schlägen vor sich her und wieder zurück zur Scheune trieb. Beide schwitzten bereits heftig. Der Platz hinter der Scheune hallte vom Krachen der aufeinander treffenden Stöcke und dem Schnaufen und Stöhnen von Großvater und Enkel wider.
Nach über einer Stunde verlangte der alte Mann endlich eine Pause. Keiner hatte einen entscheidenden Schlag anbringen können. Sie setzten sich, wo sie standen. Langsam beruhigte sich ihr Atem.
„Ich werde zu alt für solche Sachen“, erklärte Großvater Dieron.
Alep nickte grinsend. „Ja, ich auch.“
„Ehrlich, Junge. Das hier geht über meine Kräfte. Du solltest dir jemanden Jüngeren für deine Übungen suchen. Sonst passiert es noch, dass ich tot umfalle.“
„Nur noch zwei Tage, Großvater. Übermorgen ist es vorbei“, und nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: „So oder so.“
„Du wirst uns verlassen“, sagte Opa Elders ernst.
„Ich weiß es nicht.“
„Aber ich. Mein lieber Alep, von meinen drei Enkeln bist du immer der schweigsame gewesen, als trügest du eine Last auf deinen jungen Schultern, die dich niederdrückt. Irgendetwas hindert dich daran, dein Leben anzupacken. Ich weiß nicht weshalb, aber von euch dreien hast du den schweren Weg gewählt.“
Alep stand auf. „Manchmal glaube ich, ich tue das nur, um mir etwas zu beweisen, um Vater etwas zu beweisen. Wo soll ich ihm auch sonst gegenübertreten, um zu zeigen, dass ich ihm ebenbürtig sein kann? Als Bauer habe ich es vergeblich versucht. Ebenso als Schmied. Bak nimmt es überall mit Vater auf. Kwin ist der geborenen Tischler. Jeder scheint zu wissen, was er zu tun hat. Außer mir.“
Opa Elders stand auf und sah seinen Enkel auffordernd an. „Wie ist es, Junge, noch eine Runde.“
Alep willigte ein. Die beiden setzten ihre Übungen fort, wobei sie immer öfter eine Pause einlegten. In einer dieser Pausen erschien Kwin mit seinem Hund Twist auf dem Übungsplatz. Er begrüßte Alep und Großvater Elders mit seinem immer gleichen Lächeln in seinem fröhlichen Gesicht. Seine Kleidung war verdreckt und eine rote Schramme zog sich über seine rechte Wange. Alep war froh, seinen Freund zu sehen. Kwin Bohnthal nahm in Aleps Leben einen besonderen Platz ein.
2. Die Sprache der Bäume
Vom Anbeginn der Zeit war das Leben der Menschen mit dem Leben insgesamt verbunden. Die bestehenden Bindungen waren mannigfaltig und von Dauer. Sie erstreckten sich auf das Leben von Tieren und Pflanzen; ja, sogar darüber hinaus bis hin zu ausgesuchten Steinen und seltenen Metallen. Dasjenige, das sich nicht durch Sprache vermitteln konnte, wurde mit menschlichen Eigenschaften, allmächtigen Kräften oder magischen Fähigkeiten belegt und so in einen an Werten gemessen höheren Stand erhoben. Durch die Zeit ist vieles in Vergessenheit geraten und zu bloßen Widerspiegelungen der eigenen Anschauung verkommen.
Die Zeitalter kamen und gingen. Sie brachten Veränderung und Vernichtung, Neugestaltung und Wiederaufbau. Doch die Beziehungen, die seit jeher Bestand hatten, blieben, wenn nicht in den Köpfen, so doch tief in den Herzen derer bestehen, die sich zu erinnern vermochten. So enthielt jedes Zeitalter einen immer kleiner werdenden Teil Erinnerung an zurückliegende Epochen, durch die Zeit hindurch und zurück bis zum Anfang. Manche Zeiten leben bis heute fort in den Legenden großer Taten wagemutiger Männer und Frauen, überliefert durch die Erzählungen der Alten; gesammelt, niedergeschrieben und festgehalten.
Manche Erinnerungen sind soweit vergessen, dass kein Wort mehr über sie verloren wird.
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