Der falsche Auserwählte (Ein Artesian Roman) (German Edition)
die Finger von diesem Baum zu lassen.
So machte sich Wundel Tags darauf mit einer riesigen Axt in den Händen auf den Weg vom Rathaus zur Kastanie. Die ersten Bitterqueller traten aus ihren Häusern, kleine Kinder auf dem Arm, die größeren an der Hand. Sie warteten und sahen zu. Wundels Vorhaben hatte die Meinung des Dorfes gespalten. Ein Teil von ihnen war seiner Ansicht: der Baum musste weg. Andere hingegen hielten dieses Ansinnen für unüberlegt und unnütz - nicht zuletzt deshalb, weil Borken diese Meinung vertrat, und wenn es um Holz und Bäume ging, tat man gut daran, auf den Tischler zu hören.
Wundel umrundete auf seinen kurzen, dicken Beinen den Baum. Als er eine Stelle gefunden hatte, die ihm zusagte - und von der die erfahrenen Holzfäller im Dorf ihm versichert hatten, dass der fallende Baum keine Häuser unter sich begraben würde - lehnte er die Axt an den Stamm und spuckte zweimal kräftig in die Hände. Dann nahm er die Axt wieder auf und stellte sich in Position.
Als Wundel zu einem mächtigen, allerersten Schlag gegen den Baum ausholte, ließ ihn die schrille Stimme seines Sohnes Kwin so zusammenfahren, dass ihm die Axt aus den Händen glitt und fast die Zehen seines rechten Fußes abgetrennt hätte. Ganz verdattert stand er da und starrte Kwin ungläubig an, der mit wild rudernden Armen auf ihn zugerannt kam. „Das darfst du nicht“, rief er, „das darfst du nicht.“
„Oh doch, das darf ich sehr wohl“, schrie er den Jungen an. „Marsch ins Haus mit dir. Ich habe hier zu tun.“
„Nein“, rief Kwin, wobei ihm die Tränen übers Gesicht liefen. „Wenn du den Baum umhaust, musst du erst mich umhauen.“ Kwin flitzte unter den tiefhängenden Ästen hindurch bis zur Kastanie. Den schmächtigen Rücken Wundel zugekehrt umschlang er mit seinen dünnen Armen den dicken Stamm, soweit er es eben vermochte. Wundel verlor die Geduld, nicht zuletzt deshalb, weil alle Dorfbewohner diese ungewöhnliche Auseinandersetzung zwischen Vater und Sohn gespannt verfolgten. Mit zwei schnellen Schritten war Wundel unter den tiefhängenden Ästen, wobei er sich bücken musste. Ein dürrer Zweig riss ihm die Wange auf und ein feiner Blutfaden lief ihm übers Gesicht. Das bauschte Wundels Wut noch weiter auf. Im Stillen machte er erst Borken, dann die Axt und dann natürlich Kwin für diese Kette von Missgeschicken verantwortlich. Mit einem heftigen Ruck riss er die dünnen Arme seines Sohnes zurück und zog den laut schreienden und wild um sich tretenden Jungen vom Baum fort. Dann passierten mehrere Dinge gleichzeitig. Zuerst stimmte eines der Dorfkinder in die Schreie Kwins mit ein, dann ein zweites und ein drittes. Zur gleichen Zeit gelang es Kwin, sich aus dem Griff Wundels loszureißen, und er stürzte zurück zum Stamm der Kastanie. Als wäre das ein geheimes Signal gewesen, strömten nun aus allen Türen und Höfen die Kinder des Dorfes, liefen zum Baum und vereinigten sich dort mit Kwin.
Ganz in der Nähe des Dorfplatzes beobachteten ein alter Mann und ein kleiner, dunkelhaariger Junge die Ereignisse. Es war Alep, der seine kleine Hand in die kräftige und schwielige Hand seines Großvaters gelegt hatte.
„Was tun die alle da?“, fragte er.
„Der kleine dicke Mann da drüben - siehst du den?“ Alep nickte. „Das ist Bürgermeister Wundel“, erklärte Großvater Elders, „und er will den Baum fällen. Der kleine Junge da vorn, der mit den blonden Haaren ...“ Alep nickte wieder, wobei er gespannt in die Gesichter der Kinder schaute und gleichzeitig versuchte, seinem Großvater zu folgen. „ ... das ist Kwin Bohnthal, das Findelkind des Bürgermeisters. Kwin will nicht, dass sein Vater den alten Baum fällt. Dörfler! Die sind alle etwas seltsam, sogar ihre Kinder.“
Inzwischen hatten sich etwa ein Dutzend Kinder schützend vor die Kastanie gestellt. Der Lärm, den sie veranstalteten, war fast unerträglich. Trotzdem hörte man vereinzelt Stimmen von Vätern und Müttern, die ihren Kindern mit Strafe drohten, falls sie sich nicht aus dem Kreis lösten. Die Auseinandersetzung zwischen Kwin und seinem Vater hatte sich ganz schnell zu einem Machtkampf zwischen Kindern und Erwachsenen ausgeweitet. Doch die Drohungen blieben nicht ungehört.
Die Kette der Verteidiger brach langsam auf. Zuerst lösten sich die kleineren und dann auch die größeren Kinder unter den unmissverständlichen Drohungen ihrer Eltern. Sie schlurften mit gesenkten Köpfen und geröteten Gesichtern zu ihnen zurück.
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