Der falsche Auserwählte (Ein Artesian Roman) (German Edition)
Doch auch sie sind nicht gänzlich vergangen. Sie werden als unwirkliche Empfindungen erinnert, ähnlich den Gerüchen, die der Wind zuweilen über Land trägt, und der die Bilder der Kindheit wieder auferstehen lässt. So hat die Verbindung zu dem, was war, auf ihre ganz eigene Art bis heute Bestand. Nichts ist wirklich vergessen worden. An alles, was war, und vielleicht darüber hinaus auch das, was zukünftig sein wird, erinnert das Leben zu jeder Zeit - an jedem Ort.
Von diesen uralten Erinnerungen erzählt der Wind immerzu. Er trägt sie über Länder und Städte, Wüsten und Eis. Nichts gerät in Vergessenheit, solange er weht. Er ist alt; so alt wie die Zeit selbst. Er bildet das Band durch die Jahrtausende hindurch, bringt die Erinnerung wieder und erneuert die Beziehung zwischen den Epochen und den darin Lebenden. Nichts wird je vergessen sein. Und jenen, die seine Sprache verstehen, erzählt er vom Zeitalter des Gleichklangs und vom verlorenen Vermögen der Menschen, die Sprache der Bäume zu verstehen.
Seit Tagen wehte er um die Steinholzberge. Die hohen felsigen Gipfel hinauf und wieder hinunter, durch den Norden des Flachen Landes, vorbei am Eldershof, hinauf bis zur kleinen Stadt Bitterquell und den dahinter liegenden Spahnwald und wieder zurück. Zwei Tage und zwei Nächte wehte er ununterbrochen mit gleicher Stärke.
Kwin Bohnthal war nicht in Bitterquell geboren worden. Er kannte weder seine Eltern, noch seinen richtigen Namen. Aber er liebte das Land um Bitterquell bis hinauf zu den Bergen wie jeder andere Flachländer. Kwin war das einzige Waisenkind des Dorfes. Das zumindest sagten die Leute. Unbestreitbar aber war er das einzige Findelkind, das je in Bitterquell ausgesetzt worden war.
Es war ein frischer Morgen im Frühsommer, als Bürgermeister Wittlop Wundel aus Bitterquell die wohl ungewöhnlichste Entdeckung machte, von der man im Flachen Land je gehört hatte. Auf den Stufen des Bitterqueller Rathauses sah er auf seinem Weg zu Meister Borken, dem Tischler des Dorfes, ein kleines Bündel Decken liegen, in die etwas eingewickelt war. Er schloss die Tür seines Hauses, trat bis zur ersten Stufe und beugte sich herab. Behutsam wickelte er die tiefroten Decken auseinander und fand einen Jungen, der nicht älter war als einige Monate. Wundel begann natürlich sofort eine Suchaktion nach den Eltern, die sich aber eher durch hektisches Bemühen als durch wohlüberlegtes Vorgehen auszeichnete und letztendlich erfolglos verlief. Der einzige Hinweis auf die Herkunft des Jungen fand man, als die Decken einer genauen Prüfung unterzogen wurden. In jede war mit weißem Garn der Name ‘Bohnthal’ gestickt. Ob es sich hierbei um den Namen der Eltern des Jungen, oder um einen Stoff- und Wäschehändler mit Namen ‘Bohnthal’ handelte, brachte niemand heraus.
Nach einigen ernsthaften Gesprächen über Verantwortung und Menschlichkeit, die Wundel wegen des Kindes mit den Bitterqueller Bürgern führte, brachte er den Jungen schließlich zu seiner Frau Arna. Schnell war für den Jungen ein Name gefunden. Arna nannte ihn Kwin - in Erinnerung an ihr liebstes Kinderlied vom Drachenfürst: ‘König der Winde’ - und Arna nahm Kwin Bohnthal als ihren Sohn an. Sie schenkte ihm ihre Liebe - da ihre Ehe kinderlos geblieben war, bekam der kleine Kwin reichlich davon - erzählte ihm Geschichten von Drachen und sprechenden Bäumen, lehrte ihn singen und brachte ihm das Flötespielen bei.
Dann kam der Tag, an dem Wittlop Wundel, Bürgermeister von Bitterquell, die alte Dorfkastanie fällen wollte. Noch heute erzählt man in Bitterquell und Umgebung die Geschichte von Alep und Kwin, die den Erwachsenen getrotzt und sie letztendlich bezwungen hatten. Dass es den Erzählern dieser Geschichte nicht so sehr um die Heldentat der beiden Jungen, sondern vielmehr um die Niederlage des alten Wundel ging, die dieser dabei erlitten hatte, war im Flachen Land ein offenes Geheimnis, das noch heute viele Bitterqueller mit hämischer Freude und rührendem Stolz zugleich erfüllte.
Alles hatte damit angefangen, dass Bürgermeister Wundel dem Tischler Borken den Auftrag gegeben hatte, die Kastanie zu fällen, die schon seit ewigen Zeiten auf dem Dorfplatz stand. Auf des Tischlermeisters Frage, warum Wundel den Baum gefällt haben wollte, hatte dieser geantwortet: „Er stiehlt mir die Nachmittagssonne.“ Daraufhin hatte Borken sich strikt geweigert, den Auftrag auszuführen und hatte allen anderen Bitterquellern empfohlen,
Weitere Kostenlose Bücher