Der falsche Auserwählte (Ein Artesian Roman) (German Edition)
einfachen Mahlzeiten, die Frau Borken auf Holztellern servierte, schmeckten besser als alles, was sie je gegessen hatten, und die Schüsseln aus Holz hielten die Speisen noch stundenlang warm. Schwer fiel es ihnen dann, Borkens Haus der Wärme und Geselligkeit wieder zu verlassen. Meist brachen Borkens Gäste erst im Morgengrauen auf und kehrten mit einem Gefühl des Verlustes nach Hause zurück. Dass sie alle das einzigartige Wirken von Magie erlebt hatten, darauf kamen sie nicht. Und Borken sagte es ihnen auch nicht.
Als Kwin die Schmiede verlassen wollte, bestand der alte Handemann auf die Erfüllung des mit Handschlag besiegelten Vertrages und wollte ihn nicht gehen lassen. Erst als Kwin versprach, jemanden zu finden, der an seiner Stelle die Zuarbeiten übernehmen würde, war der alte Schmied einverstanden. So kam Alep für einige Monate nach Bitterquell und erlernte die Grundregeln des Schmiedehandwerks. Für Kwin aber begann ein völlig neues Leben.
Kwin stürzte sich voller Eifer in seine neue Aufgabe und schon bald tauchte er in die tiefen Geheimnisse und Mysterien der Tischlerei ein. Die Formeln und Formen nahmen ihn gefangen und sollten ihn sein ganzes Leben lang nicht wieder loslassen. Er entdeckte eine neue Welt mit einfachen Gesetzen und Regeln und anstrengender körperlicher Arbeit. Und dann war da das Holz selbst. Es war reine Magie, die er darin, unter ständiger Anleitung seines Meisters, entdeckte. Wie zäher Sirup floss sie langsam und stetig durch das Holz, das er in den Händen hielt.
„Holz lebt, mein Junge, ebenso wie du und ich“, sagte Borken. „Zwischen Bäumen und Menschen besteht seit ewigen Zeiten eine enge Beziehung. Früher gab der Wald den Menschen alles, was sie zum Leben brauchten. Schutz vor der Natur, Nahrung und nicht zuletzt Brennstoff für das Feuer. Daran hat sich wenig geändert, und die Verbindung hat bis heute Gültigkeit, auch wenn viele von uns es vergessen haben. Für die meisten Handwerker unserer Zunft ist das Holz in erster Linie ein Werkstoff, aber wenn das Werkstück etwas Besonderes werden soll, wenn es Eigenschaften haben soll, die über das hinausgehen, was man mit bloßem Auge erkennen kann, dann tun wir gut daran, uns an die jahrhundertealte Beziehung zwischen Baum und Mensch zu erinnern. Allein, nur die wenigsten von uns sind dazu noch in der Lage. Wie so vieles andere sind auch die alten Lehren vom Holz zum größten Teil in Vergessenheit geraten. Aber einige von uns verfügen noch über das alte Wissen.
Wer einen Baum zur Unzeit fällt, oder die alten Lieder missachtet, die beim Fällen eines Baumes gesungen werden müssen, der tötet die Magie des Baumes und in gewisser Weise auch den Baum selbst. Das wahre Tischlerhandwerk, das, was unsereins über die allerorts vertretenen Holzhandwerker erhebt, ist die Kunst, die vorhandene Magie zu wahren, zu formen und zu verstärken.
Nun, Kwin, ich habe dich lange beobachtet. Viele Jahre, seit du die Kastanie gegen den Willen deines Vaters beschützt hast. Ich habe beobachtet, welche Arbeiten du angenommen hast und welche nicht. Ich habe dich bei den Elders und dem alten Handemann arbeiten sehen. Du hast geschickte Hände und einen wachen Verstand. Aber vor allem besitzt du die Gabe des Formens - zumindest, was das Eisen angeht. Nun wollen wir sehen, ob dir das Gleiche auch beim Holz gelingt. Beantworte mir diese Frage: Willst du ein wahrer Tischler werden, der die alten Lehren erlernt und annimmt und sie irgendwann an einen fähigen jungen Mann weitergeben, so wie ich sie an dich weitergeben werde? Du musst dich nicht gleich entscheiden. Nimm dir Zeit. Aber lass dich warnen: Es wird ein harter Weg. Du wirst mit niemandem außer mir über das sprechen können, was du erfährst, und was ich dich lehren werde. Die hohen Tischlerlehren sind geheim und müssen es bleiben. Die Menschen im Dorf und draußen auf dem Land würden es ohnehin nicht verstehen. Schlimmer noch, sie würden dich für das meiden, was du bist.“
Borken machte eine lange Pause und betrachtete Kwin.
Für Kwin aber gab es kein Zögern und so sagte er: „Ich will!“
Kwin lernte von Borken alles über das Fällen der Bäume. So war es bei einem Eichbaum wichtig, dass man ihn von Norden fällte, und er nach Süden fiel. Ahorn durfte nur in der Morgendämmerung geschlagen werden, Buchenholz nur um Mitternacht. Und jeder Baum hatte sein eigenes Lied. Langsame, tiefe und traurige Gesänge, die beim Schlagen des Holzes gesungen werden mussten, um
Weitere Kostenlose Bücher