Der falsche Engel
eurem Studienjahr.«
»Wieso meinetwegen?«
»Weil der Mörder eifersüchtig auf dich war. Hör mal, Gerassimow, das hättest du mir längst erzählen sollen. Das hätte ich
in einem Roman verwenden können.«
»Moment – Pjotr Maso hat also gesagt, Mascha wäre meinetwegen ermordet worden?«
»Nein, nicht doch.« Evelina lachte. »So hat er das natürlich nicht gesagt. Aber die Geschichte klang wirklich unglaublich,
und Pjotr war zu betrunken, um sie richtig zu erzählen. Erzähl du sie mir, bitte! Du erinnerst dich bestimmt daran.«
»Selbstverständlich erinnere ich mich daran.« Sergej nickte. »Aber ich bin nicht der beste Zeuge. Ich war in jener Nacht nicht
dabei.«
»Natürlich, im entscheidenden Moment warst du krank. Wie immer. Du hast eifrig mit dieser Mascha geflirtet, den armen verliebten
Jungen zur Weißglut gebracht, und dann bist du krank geworden.«
»Ja, ich war krank, ich lag die ganze Nacht mit hohem Fieber im Bett, ich kann dir nichts erzählen, ich wurde während der
Ermittlungen nicht einmal vernommen.«
»Der Täter hieß Juri Michejew?«
»Ja.«
»Und er hat zehn Jahre bekommen?« Sie schenkte sich erneut Cognac ein.
»Ich glaube ja.« Sergej nickte und rückte die Flasche vorsichtig von ihr weg.
»Das Ganze ist 1985 passiert. Dann muss er also vor fünf Jahren rausgekommen sein. Weißt du irgendwas von ihm?«
»Ich hab mich, ehrlich gesagt, nicht dafür interessiert.«
»Tut er dir leid?«
»Ja, wahrscheinlich.« Sergej nickte. »Aber er ist nun mal ein Mörder.«
»Er ist dir also im Grunde egal?«, hakte Evelina nach.
»Herrgott, Lina, worauf willst du hinaus? Was kümmerts dich, ob er mir egal ist oder nicht?«
»Gut« – Evelina runzelte die Stirn –, »hör zu. Maso hat behauptet, er hätte Michejew vor anderthalb Jahren auf dem Flugplatz
Scheremetjewo getroffen. Pjotr wollte nach Frankfurt zur Buchmesse. Er ging in die Bar. Am Nebentisch saßen vier Personen.
Zwei junge Gorillas, vermutlich Bodyguards, ein umwerfend schönes Mädchen und ein älterer Mann, der aussah wie ein Geschäftsmann
oder ein Gangsterboss. Sein Gesicht kam Pjotr bekannt vor. An der Stimme erkannte er ihn und stürzte auf ihn zu. ›Juri! Du?‹
Doch die beiden Gorillas ließen ihn nicht näher ran, und Michejew mimte höfliches Erstaunen: ›Entschuldigung, ich kenne Sie
nicht.‹«
»Vielleicht hat dein Maso sich ja wirklich getäuscht.«
»Er schwört, dass nicht. Mit ihm zusammen flogen noch mehrere Leute aus dem Verlag auf die Messe, darunter der Geschäftsführer,
der alle und jeden kennt. Pjotr sah den bewussten Mann später im Duty free noch einmal, zeigte ihn dem Geschäftsführer, und
der sagte: ›Was, den kennst du nicht? Das ist Palytsch, ein berühmter Kriminellenboss!‹ So ist das, Stas. Maso hat ein phänomenales
Personengedächtnis. Er hat sich nicht getäuscht.«
»Tja, dann wollte Michejew nach dem Knast einfach nichts mit jemandem aus seinem früheren Leben zu tun haben.« Sergej zuckte
die Achseln. »Durchaus verständlich.«
»Was findest du verständlich?«, schrie Evelina heiser. »Michejew ist 1995 an Tuberkulose gestorben! Pjotr hat extra Erkundigungen
eingeholt, er hat Bekannte im Innenministerium.«
»Betrinkt sich dein Cheflektor häufig so?«
»Pjotr trinkt gern einen, dann verheddert sich seine Zunge, aber sein Kopf ist klar, glaub mir. Sag mal, dein Unfall, kann
das womöglich eine Fortsetzung gewesen sein?«
»Eine Fortsetzung wovon?«
Evelina schüttete eine weitere Portion Cognac hinunter, setzte sich vom Sessel zu Sergej aufs Sofa und nahm ihm die Brille
ab. Er gab sich alle Mühe, ihrem Blick standzuhalten. Er wusste nicht, dass Stas in einer solchen Situation die Augen abgewandt
hätte.
»Ich verstehe das nicht«, flüsterte sie kaum hörbar, »eine Gehirnerschütterung kann dich doch nicht so verändert haben. Irgendwas
stimmt mit dir nicht, oder ich spinne.« Ihre langen Finger mit den spitzen Nägeln glitten über seinen Hinterkopf. »Dein Haar
ist gefärbt. Was ist los, Stas?«
»Lina«, flüsterte er und schluckte krampfhaft, »du weißt doch, man hat mehrmals versucht, mich umzubringen, hat eine Pistole
in deine Wohnung geschmuggelt. Und dann dieser schreckliche Unfall. Ich lag fast im Koma. Als ichwieder zu mir kam, sah ich im Spiegel, dass ich vollkommen ergraut war. Diesen Anblick konnte ich nicht ertragen. Ich war
auf dem Heimweg beim Friseur und hab mir die Haare färben lassen. Es fällt
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