Der falsche Engel
Feldkommandeur Schamil Ismailow, der Hunderte Menschenleben auf dem Gewissen hatte.
Lautlos über die Teppiche schreitend, kam er näher.
»Hallo, Stas. Schön, dich zu sehen, mein Lieber.« Sie drückten einander die Hand. »Na, dann erzähl mal, was los ist.«
Der dicke Issa, der seinen schmutzigen Kittel und die verwaschenenJeans gegen einen schwarzen Anzug getauscht hatte, verbeugte sich respektvoll, schenkte ihnen Mineralwasser ein und sagte
sehr schnell etwas auf Tschetschenisch.
»Danke, mein Lieber, ich habe verstanden. In fünfzehn Minuten«, antwortete Ismailow auf Russisch und wandte sich freundlich
lächelnd wieder Stas zu.
»Ich höre.«
»Jemand ist hinter mir her, ziemlich ernsthaft«, begann Stas halblaut, wobei er es vermied, Ismailow in die ruhigen blauen
Augen zu sehen. »Vor einem Monat hat man eine Sprengladung an meinem Auto befestigt, doch ich hatte Glück, ich bin zum Rauchen
raus auf den Balkon und habs gesehen. Die Sprengladung wurde entschärft, aber die Täter wurden natürlich nicht gefunden, und
bis heute ist unklar, wer das war, das heißt, ich weiß inzwischen, wer …«
In Ismailows Tasche ertönten die ersten Akkorde von Tschaikowskis »Tanz der kleinen Schwäne«. Er zog das Telefon heraus. Die
blauen Augen lösten sich von Stas.
»Entschuldige, mein Lieber.« Er sprach hastig und erregt tschetschenisch und knackte dabei mit den Fingern.
Issa kam herbeigelaufen, erhielt eine kurze, scharfe Anweisung und rannte mit wackelndem Bauch davon. Ismailow telefonierte
noch ein paar Minuten, dann legte er das Telefon beiseite und wandte sich wieder Stas zu.
»Red weiter.«
»Kurz darauf wurde mein Chauffeur umgebracht. Ich hab im Restaurant gegessen, und als ich rauskam, fand ich die Leiche im
Auto. Die Tatwaffe hat irgendwer anschließend in die Wohnung meiner Freundin geschmuggelt.« Stas hatte nicht erwartet, dass
er sich so aufregen würde, aber er spürte, dass er immer heftiger zitterte, seine Stimme wurde ganz rauh, er hustete ständig
dumpf. »Dann bin ich nach Griechenland geflogen, und dort hätte mich ein riesiger Laster beinahe in eine Schlucht gedrängt.
Und nebenbei noch einpaar Kleinigkeiten. Zum Beispiel waren meine Bankkarten plötzlich gesperrt …«
»Oh!« Ismailow hob den Zeigefinger, seine Augen blitzten auf. »Apropos Bank! Ich muss auch mit dir reden. Aber nicht jetzt,
später. Entschuldige, ich hab dich unterbrochen.«
»Ich weiß, wer der Mann ist, der mich verfolgt, wir haben zusammen studiert. Er wurde 1985 eingesperrt, zehn Jahre wegen Mordes.
Offiziell ist er an Tuberkulose gestorben. Er hieß Juri Michejew, wie er sich jetzt nennt, weiß ich nicht. Aber er hat eine
Schwester, sie ist siebenundzwanzig, eine große Blonde, sehr hübsch. Sie …«
Issa kam hereingestürmt und sagte hastig etwas auf Tschetschenisch, nur ein paar Worte. Ismailow nickte und stand auf.
»Entschuldige, mein Lieber, ich muss. Ich sehe, du hast ernsthafte Probleme, und du kannst auf mich zählen, aber jetzt muss
ich weg.« Er drückte Stas die Hand und klopfte ihm auf die Schulter. »Wir sehen uns bald, in den nächsten Tagen. Ich muss
auch was mit dir besprechen.«
Stas wollte fragen, wann und wo, aber Ismailow verschwand ebenso rasch, wie er gekommen war. Bereits an der Tür, versprach
er noch: »Ich ruf dich an!«
Issa kam zurück und sagte höflich: »Komm, ich bring dich raus.«
Auf watteweichen Beinen passierte Stas das Labyrinth, das Lager, die Treppe, die Küche und trat hinaus auf die Straße.
Plötzlich barst über ihm der Himmel. Als die schweren Tropfen des ersten diesjährigen Maigewitters auf ihn fielen, rannte
er zur Twerskaja, ein Taxi anhalten. Im Wagen wurde er schläfrig. Im Hotel angelangt, schleppte er sich mühsam zum Bett, zog
sich aus, kroch unter die Decke und schlief ein. Er erwachte mitten in der Nacht von Schüttelfrost.Auch ohne Thermometer war ihm klar, dass er mindestens neununddreißig Fieber hatte.
Dass sich seine Handynummer geändert hatte und Ismailow ihn nicht erreichen konnte, fiel ihm erst fiel später ein.
Das Haus zu finden, in dem Angela festgehalten wurde, war nicht weiter schwierig. Im fraglichen Umkreis von dreißig Kilometern
befanden sich ein Eichenwäldchen, ein kleines Kartoffelfeld, ein Dorf und eine Siedlung mit Sommerhäuschen.
Im Dorf und in der Siedlung kannten die Leute einander, und es fanden sich gesprächige alte Frauen, die ausführlich Auskunft
gaben über die
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