Der falsche Engel
der Dusche … Und sein Handy ist auch abgeschaltet. Wie lange ist er schon weg?«
»Seit fast zwei Tagen«, antwortete Raiski düster und wich dem Blick des Generals aus. Die Ereignisse vor der Flucht, den Tobsuchtsanfall
und den nächtlichen Besuch der Psychiaterin, ließ er aus.
»Vielleicht ist das die erste männliche Tat in seinem Leben?«, sagte der General nachdenklich und mit sanftem Lächeln. »Michail«,
wandte er sich an den Oberst, »hast duimmer noch nicht herausgefunden, wer meinen Sohn verfolgt?«
»Ich muss Ihnen etwas gestehen. Ich habe mich geirrt. Es ist nicht Ismailow, sondern jemand anders. Und ich weiß noch immer
nicht, wer.«
»Michail, Michail«, seufzte der General. »Du hast dich zu sehr in dein Spiel verbissen.«
»Vorerst weiß ich nur, dass er die Insel und überhaupt Griechenland nicht mit dem Flugzeug verlassen hat. Und keine Kreditkarten
benutzt hat.«
»Er hat genügend Bargeld«, entgegnete der General. »Setz dich mit den Grenzern in Scheremetjewo in Verbindung. Aber ich weiß
auch so, dass er bereits hier in Moskau ist. Er ist über die Türkei oder Bulgarien gekommen. Er wohnt in einem Hotel irgendwo
am Stadtrand und versucht, direkt mit einem unserer kriminellen ›Dächer‹ Verbindung aufzunehmen. Aber du wirst ihn jetzt sowieso
nicht finden. Musst du auch nicht. Besser, es weiß vorerst keiner, dass er hier ist.«
»Wladimir, was redest du da?«, mischte sich Natalja ein. »Wir müssen ihn finden, wir können doch nicht einfach nur abwarten.«
»Natalja, wir können jetzt überhaupt nichts mehr.« Der General lächelte schwach. »Ich habe alles getan, was in meiner Macht
stand. Er muss die Chance haben, wenigstens einmal im Leben etwas selbst zu tun, ohne meine Hilfe.«
»Aber wir müssen ihn finden und ihn von dem Doppelgänger informieren, sonst ist das ganze Spiel verloren«, sagte Raiski langsam
und verwundert.
»Tja, Michail, du hast dich wirklich sehr darin verbissen.« Der General schüttelte den Kopf. »Ich bin sicher, du wirst Ismailow
kriegen. Deine Idee war ausgezeichnet. Dieser Major … Ich will gar nicht wissen, wo du ihn aufgetrieben hast, und es tut mir
auch nicht leid um das Geld für dieplastische Operation. Er ist ein fähiger Mann, sieh zu, dass du ihn behütest. Opfere ihn nicht für Ismailow, du wirst ihn
noch gebrauchen können. Und General wirst du sowieso, wenn nicht jetzt, dann eben später. Aber verstrick dich nicht zu sehr
in dein Spiel. Die Zeit vergeht rasend schnell. Es gibt Dinge, die sind wichtiger und stärker als unsere interessante, aber
ausgesprochen beschissene Arbeit. Dieser Dreck, der mich von innen auffrisst, der ist stärker und wichtiger als jede Arbeit.
Und das Böse, das wir im Namen unserer Arbeit getan haben, ist am Ende auch wichtiger und stärker als sie.«
Sie haben unrecht, General. Sie haben unrecht, weil Sie bald sterben. Aber ich nicht, dachte Raiski, sagte das aber natürlich
nicht laut.
Er ist high, er hat vor nichts Angst. Er wird ins Zimmer stürmen und das ganze Magazin leerschießen. Was habe ich für eine
Chance? Sie haben alles berechnet, sie haben nur nicht daran gedacht, dass ich hier sein könnte und ihn erkenne, bevor er
handelt.
Sergej ging ins Sprechzimmer und warf die Tür ins Schloss.
»Was machen Sie da?«, fragte die Schwester erstaunt. Er antwortete nicht, griff nach seinem Telefon und wählte Raiskis Nummer.
»Michail, er ist hier.«
Der Oberst hatte eben erst das Haus des Generals verlassen, er war mürrisch und gereizt. Er erkannte Sergej nicht gleich,
begriff nicht, wovon die Rede war, und fragte, mühsam den Straßenlärm übertönend: »Wer ist da? Was ist los?«
»Setzen Sie sich mit Ihren Leuten in der Klinik in Verbindung. Es ist sehr dringend. Es ist Feldwebel Trazuk. Erinnern Sie
sich an das Video – Hassan, der die Geisel erschossen hat. Er sitzt im Flur im zweiten Stock, vor Zimmer einunddreißig. Da
sind ein Haufen Leute. Er hat dieWaffe in der rechten Hand, in einer Zeitschrift versteckt. Lange blonde Haare, rundes Gesicht, sieht aus wie höchstens zwanzig,
trägt blaue Jeans und schwarze Lederjacke.«
Während Sergej sprach, ließ er die Jalousie herunter. Draußen braute sich ein Gewitter zusammen. Der Himmel war ganz schwarz.
Im Sprechzimmer war es nun fast dunkel. Julia und die rothaarige Krankenschwester waren erstarrt und sahen Sergej schweigend
an. Ihre Augen leuchteten in der Dunkelheit.
»Warten Sie, Major,
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