Der falsche Engel
Business-Class-Salon ausgezeichnet aus. Um zehn Uhr morgens stieg er in Scheremetjewo in
ein Taxi und bat den Fahrer, ihn in ein preiswertes, anständiges Hotel zu bringen, wo niemand nach dem Pass fragte. Er war
in so prächtiger Stimmung, dass er dem wortkargen Fahrer eine herzzerreißende Geschichte auftischte: Von seiner rasend eifersüchtigen
Frau, die ständig Detektive engagiere, um ihn zu beobachten, und von seiner zärtlichen Geliebten, mit der er sich nur heimlich
treffen könne, in Hotelzimmern in fremden Städten.
»Dann lass dich doch scheiden«, riet ihm der Fahrer träge.
»Das hätte ich längst getan, wenn nicht die Kinder wären«, seufzte Stas. »Ich hab drei.«
Während er enthusiastisch seine zärtlichen Vatergefühle für die beiden Söhne und die Tochter schilderte, überquerte das Taxi
den Stadtring, fuhr durch mehrere stille Straßen und hielt schließlich vor einem sauberen zweistöckigen Haus. Über der Tür
leuchtete ein buntes Schild mit der Aufschrift: Motel Glühwürmchen.
»Hier kostet ein Zimmer zwischen siebzig und hundertDollar die Nacht. Von den anständigen ist es das Preiswerteste«, verkündete der Fahrer. »Und? Zufrieden?«
Stas nickte »Vollkommen.«
Tatsächlich fragte niemand nach seinem Ausweis. Das Mädchen am Tresen schob ihm ein Anmeldebuch hin, in das er seinen Namen
eintragen sollte und die Stadt, aus der er kam. Ohne lange nachzudenken, schrieb er: Iwan Sidorow, Sankt Petersburg.
Im Zimmer nahm er als Erstes eine Wechseldusche, rasierte sich, hängte seine Sachen ordentlich in den Schrank, dann ging er
hinunter ins Café und frühstückte.
Vom Hotel aus ging er zu Fuß bis zur Leningrader Chaussee, dort hielt er ein Taxi an und fuhr ins Zentrum. Am Beginn der Twerskaja,
am Belorussischen Bahnhof, stieg er aus, lief durch ein paar kleine Gassen und gelangte schließlich an sein Ziel.
Es war ein recht zweifelhaftes kleines Restaurant mit unsauberen Tischdecken und dem Geruch nach angebrannten Zwiebeln aus
der Küche. Es hatte gerade geöffnet, Stas war der erste Gast.
»Frühstück?«, fragte die Kellnerin verschlafen.
Stas winkte sie heran, sie beugte sich zu ihm herunter, und er flüsterte ihr ins Ohr: »Ist Issa Muchamedowitsch da?«
Das Mädchen war sofort hellwach, maß ihn mit einem raschen, aufmerksamen Blick und fragte im Ton einer Chefsekretärin: »Wen
darf ich melden?«
»Stanislaw Gerassimow.«
Sie nickte und ging in die Küche. Stas zündete sich eine Zigarette an und wartete. Nach fünf Minuten kam ein dickbäuchiger
Mann in einem schmutzigen weißen Kittel aus der Küche.
»Bist du Gerassimow?«, wandte er sich an Stas und musterte ihn von Kopf bis Fuß. »Komm mit.«
Der Dicke führte ihn rasch durch die Küche, dann stiegen sie eine kurze Treppe hinunter und befanden sich in einem kleinen
Lagerraum voller Kisten und Säcke. Plötzlich tauchten, wie aus dem Boden gestampft, zwei Gorillas in Tarnanzügen auf und durchsuchten
Stas schweigend. Er protestierte nicht und wunderte sich auch nicht über diesen seltsamen Empfang. Er wusste: Das war hier
so üblich.
Der Dicke führte ihn weiter, durch ein enges steinernes Labyrinth, das vor einer Stahltür endete. An der Tür hing ein Schloss.
Der Dicke klapperte mit einem Schlüsselbund, schloss auf, und sie betraten ein geräumiges Zimmer mit teuren Teppichen an den
Wänden.
»Nimm Platz«, befahl der Dicke, auf tiefe Samtsessel deutend, und verschwand hinter einer unauffälligen Tür zwischen den Teppichen.
Nach zehn Minuten kam er zurück und reichte Stas ein Mobiltelefon.
»Sprich!«
»Hallo, mein Lieber«, ertönte eine angenehme tiefe Stimme mit so leichtem kaukasischem Akzent, dass nur ein sehr geübtes Ohr
ihn wahrnahm, »wie gehts?«
»Danke. Und dir?«
»Alles in Ordnung. Was hast du für Probleme?«
»Sehr ernste, wir müssen uns treffen.«
»Wie dringend?«
»Je eher, desto besser.«
»Gut. In zwei Stunden muss ich sowieso zu Issa, wenn du Zeit hast, bleib so lange da und warte auf mich.«
Sergej lief ohne Eile über den Flur der dritten Etage, entdeckte die Videokameras und war beruhigt – ein eventueller Mörder
würde sie ebenfalls bemerken und sich womöglich besinnen.
Nein, hierher wird er kaum kommen, sagte sich Sergej,während seine Augen über die Gesichter der vor den Sprechzimmern wartenden Patienten glitten. Hier käme er zwar problemlos
rein, aber nicht wieder raus. Das Gebäude ist neu, es gibt keine verborgenen
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