Der falsche Engel
gerichtet.
»Ja, also, ich werd ihn jetzt umlegen«, hörte Sergej eine hohe, brüchige Stimme sagen. Im Namen Allahs, also … Feldwebel Andrej
Trazuk …«
Die Angehörigen der Spezialeinheiten trugen das Haar normalerweise kurzgeschoren. Die langen dünnen Haare hatten den Feldwebel
Andrej Trazuk stark verändert. Überhaupt war er kaum wiederzuerkennen. Seine Augen waren ganz weiß und zu Schlitzen verengt.
Die Kalbswimpern klapperten nicht ständig auf und zu wie früher. Ohne zu zwinkern, schaute er Sergej in die Augen. Das Magazin
lag noch immer auf seinem Schoß, nun jedoch zugeschlagen. Die rechte Hand lag versteckt zwischen den Seiten. Einen Augenblick
lang glaubte Sergej, der ehemalige Feldwebel habe auch ihn erkannt, trotz der plastischen Operation.
Vor nur sieben Monaten, im November, hatte Major Loginow den Feldwebel Trazuk in der Nähe des Bergdorfes Assalach auf seinem
Rücken aus dem Beschuss geschleppt, keuchend vor Erschöpfung und Gestank. Trazuk war zum ersten Mal im Leben in eine Umzingelung
und unter heftigen Beschuss geraten. Er war nicht verwundet, sondern schlicht in Ohnmacht gefallen, und als er auf dem Rücken
des Majors zu sich kam, bepinkelte er sich und schiss sich in die Hose.
In Gefangenschaft war er beinahe sofort bereit, zu Ismailow überzulaufen, zum Islam überzutreten und Hassan zu werden.
Der ehemalige Feldwebel Trazuk sah den ehemaligen Major Loginow mit vollkommen leeren, irren Augen an.
Haben sie also doch einen Selbstmordkandidaten gefunden, dachte Sergej ruhig.
»Guten Tag, Michail, wie schön, dass Sie gekommen sind.« Natalja küsste Raiski auf die Wange und bemerkte traurig: »Sie sind
unrasiert und haben abgenommen.«
»Wie geht es Wladimir?«, fragte der Oberst, während er die Schuhe auszog.
»Er schläft. Kommen Sie, ich koche Ihnen so lange einen Kaffee.«
»Danke, gern. Aber ich habe nur sehr wenig Zeit.«
Raiski folgte ihr in die Küche, setzte sich und zündete sich sofort eine Zigarette an.
»Ist das wahr?«, fragte er leise.
»Was denn, Michail?«
Sie stand mit dem Rücken zu ihm, löffelte gemahlenen Kaffee in den Kaffekocher und drehte sich nicht um.
»Ist die Diagnose hundertprozentig? Oder …«
»Oder, Michail, oder.« Sie stellte das Kännchen auf den Herd und rührte den Kaffee um.
»Das heißt, er hat sich gar nicht richtig untersuchen lassen?«
»Das wird er auch kaum tun.« Natalja lächelte. »Sehen Sie, Michail, ich habe dort auf Korfu einen Onkologen kommen lassen.
Der Grieche hat gesagt, Wladimir habe noch einen Monat. Und diese dreißig Tage will er nicht mit medizinischen Prozeduren
verschwenden. Das ist alles. Aber wechseln wir lieber das Thema. Wissen Sie, Ihre Idee mit dem Doppelgänger hätte mich beinahe
den Verstand gekostet.«
»Ja, verzeihen Sie, ich hätte Sie vorwarnen sollen«, sagte Raiski verdattert.
Er musste die Nachricht erst verdauen. Der General hatte also nur noch einen Monat zu leben, und es gab keine Hoffnung, nicht
die geringste. Sonst würde sein ehemaliger Chef sich behandeln lassen.
»Weiß Stas von dem Doppelgänger?«, fragte er nach einem dumpfen Räuspern.
»Nein.« Natalja drehte sich um – sie lächelte. »Sie sind ein großer Geheimniskrämer, Michail. Wladimir hat immer gesagt, Sie
hätten einen Geheimhaltungstick. Aber warum fragen Sie, ob Stas Bescheid weiß? Ist das jetzt von Belang? Er ist doch noch
auf Korfu.«
»Er hat die Villa verlassen«, seufzte Raiski, »Nikolai hat mich angerufen. Er traut sich nicht, Ihnen das am Telefon mitzuteilen,
und hat mich deshalb gebeten, es Ihnen zu sagen.«
»So etwas habe ich befürchtet«, sagte eine schwache heisere Stimme von der Tür her.
Die beiden zuckten zusammen. Der General stand in der Tür, gegen den Rahmen gelehnt. Der samtene Hausmantel hing an ihm wie
an einem Kleiderständer. Raiski erkannte den General gar nicht gleich. Er hätte nie gedacht, dass sich ein Mensch in nur zwei
Wochen so stark verändern konnte.
Lautlos kam Wladimir herein. Er trug keine Pantoffeln, nur dicke Wollsocken. Bedächtig und vorsichtig setzte er sich in den
Schaukelstuhl am Fenster. Raiski drückte die Zigarette aus.
Der General winkte ab. »Schon gut, du kannst ruhig rauchen, das ist jetzt egal. Gieß mir auch einen Kaffee ein, Natalja. Mein
kleiner Scheißer ist also seinem Bewacher entwischt? Und ich hab mich schon gewundert, warum Nikolai und Oxana so rumeiern
– er schläft, er ist am Strand, er ist in
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