Der falsche Engel
weiß. Ihn auszuschimpfen oder zu bestrafen fiel Natalja
schwer. Wenn er wieder mal etwas angestellt hatte, war er anschließend ganz rührend und sanft, schwor unter Tränen, er erinnere
sich an nichts und verstehe gar nicht, was er getan habe. Dann war er eine Zeitlang still und brav und benahm sich mustergültig
– bis er wieder etwas anstellte.
Als er sechs war, erzählte ihm Natalja, dass er einen Zwillingsbruder gehabt habe, Serjosha. Und Serjosha würde niemals ein
Mädchen beißen. Und auch kein fremdes Spielzeug kaputtmachen.
Noch immer hatte sie die Gewohnheit, in die Flickendecke zu weinen, als wollte sie sich bei Serjosha über seinen schwierigen
Bruder beklagen. Doch eines Tages konnte sie nach einem der üblichen Konflikte ihren Talisman nicht finden. Sie lief wie aufgescheucht
in der Wohnung herum und wühlte in allen Schränken danach.
Es war tief in der Nacht. Wladimir war auf einer Dienstreise. Stas schlief seelenruhig. Natalja war vollkommen außer sich.
Sie rannte ins Zimmer des Sohnes, schaltete das Licht ein, warf alle Sachen aus dem Schrank auf den Boden und kippte den Spielzeugkorb
um. Da entdeckte sie auf dessen Boden einen vertrauten Flicken, blau mit weißen Punkten. Ihr war, als hätte man sie mit eiskaltem
Wasser übergossen.
Ein ganzer Haufen bunter Flicken mit Fetzen grauer Watte daran fiel aus der großen Pappschachtel des Metallbaukastens. Der
Stoff war zerrissen und zerschnitten. Eine Weile stand sie da und wusste nicht, was sie tun sollte. Siehatte Angst, schämte sich für ihre Hysterie, und es tat ihr leid um die Decke, das Einzige, was ihr von Serjosha geblieben
war. Vor allem aber wusste sie nicht, wie sie mit Stas darüber reden sollte und ob überhaupt.
Sie spürte seinen Blick im Rücken. Er schlief längst nicht mehr, aber sobald sie sich umdrehte, schloss er die Augen.
»Warum hast du das getan, Junge?«, fragte sie zärtlich, setzte sich auf den Bettrand und streichelte seinen Kopf.
Er stellte sich weiter schlafend.
»Ich schimpfe auch nicht mit dir und bestrafe dich nicht, aber sag mir, warum?«
Ohne die Augen zu öffnen, drehte er sich zur Wand und zog sich die Decke über den Kopf.
Am nächsten Morgen nach dem Frühstück wiederholte sie ihre Frage. Der sechsjährige Stas sah sie mit vollkommen erwachsenen
glasigen Augen an und zuckte verständnislos die Achseln.
»Was ist denn passiert, Mama? Was für eine Decke? Nein, ich weiß von nichts.«
Auf dem Weg zum Kindergarten machte er in der Straßenbahn ein furchtbares Theater, warf sich im Gang auf den Boden, strampelte
mit den Beinen und brüllte. Natalja beschloss, mit ihm zu einem Kinderpsychologen zu gehen. Der empfahl ihr, den Jungen aus
dem Kindergarten zu nehmen und, wenn es ihre Mittel erlaubten, eine Kinderfrau einzustellen.
Seitdem waren dreißig Jahre vergangen. Als Natalja die zerfetzte Matratze sah und die Fotoschnipsel, stand ihr die Geschichte
mit der Flickendecke wieder deutlich vor Augen. Darum wunderte sie sich kaum, als der sechsunddreißigjährige Stas die Achseln
zuckte, sie mit glasigen Augen ansah und sagte: »Was ist denn passiert, Mama? Was für ein Loch? Ich weiß von nichts, lass
mich in Ruhe.«
Zwanzigstes Kapitel
Sergej hörte Schritte im Flur. Er setzte sich rasch auf, stellte die Beine auf den Boden und starrte zur Tür. Er gestand sich
ein, dass er auf Julia wartete, als hätten sie beide ein Rendezvous. Doch es war Oberst Raiski, der hereinkam.
Er hatte den weißen Kittel lässig über die Schultern geworfen, seine Brillengläser blitzten, seine Lippen verzogen sich zu
einem munteren Begrüßungslächeln.
»Guten Tag. Lassen Sie sich anschauen.« Er trat zu Sergej, beugte sich über ihn und starrte ihm ins Gesicht. Unter seinem
durchdringenden eisigen Blick taten Sergej sofort sämtliche Narben weh.
»Nun, sind Sie zufrieden mit dem Ergebnis?«, fragte Sergej, den Blick böse auf den Oberst gerichtet – und sah sein formloses,
blaurotes Gesicht in dessen Brillengläsern gleich zweimal.
»Warum so feindselig?« Raiski trat einen Schritt zurück und setzte sich auf einen Stuhl. »Ich finde, ich mute Ihnen meine
bescheidene Gegenwart nicht allzu häufig zu, doch Sie verkünden direkt in die Videokamera hinein, Sie hätten mich satt. Das
verletzt mich, ehrlich.«
»Ich habe die Ungewissheit satt. Die Lügen, die mir hier auf Ihren Befehl hin aufgetischt werden«, erklärte Sergej, ohne den
Kopf zu heben.
Raiski überhörte
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