Der falsche Engel
irgendwelchen Unsinn und fragte schließlich: »Wie wollen wir unseren
Sohn nennen?«
»Den älteren Serjosha, wie den jüngeren, weiß ich nicht«, antwortete Natalja.
»Wir beide haben einen Sohn«, sagte er kaum hörbar. »Sergej ist ein schöner Name. Er gefällt mir.«
»Wieso einen? Wir haben zwei Kinder. Zwillinge. Zwei Jungen.«
»Natalja, das zweite Kind ist gestorben«, flüsterte Wladimir ihr ins Ohr und küsste sie durch mehrere Schichten Mull hindurch.
»Moment, erinnerst du dich denn nicht?«, entgegnete Natalja ärgerlich. »Erst kam Sergej. Dann hatte ich wieder Wehen. Die
Pantelejewna gab dir Sergej und holte den zweiten. Er hat nicht gleich geschrien, doch die Pantelejewna hat ihm Nase und Mund
gesäubert, und er schrie ganz normal. Serjosha hat auf deinem Arm friedlich geschlafen, dann hast du ein Auto kommen gehört
und ihn der Pantelejewna gegeben. Er hat geschlafen.«
»Er war tot«, sagte Wladimir sanft, »er hat einfach nicht mehr geatmet. Ich dachte auch, er schläft.«
Natalja stockte der Atem. Wladimir hatte laut ausgesprochen, was sie bereits wusste. Doch sie weigerte sich kategorisch, es
zu glauben.
»Ich habe ihn heute hier begraben, auf dem städtischen Friedhof. Ich hab mit dem Wächter gesprochen, er stellt einen Grabstein
mit Namen auf, damit wir das Grab wiederfinden. Wenn du willst.«
»Nein!« Natalja schüttelte so heftig den Kopf, dass sich ihr Batisttuch löste und ihr das ungewaschene, offene Haar ins Gesicht
fiel. »Ich glaube dir nicht. Du lügst.«
Wladimir versuchte nicht, sie zu überzeugen. Er blieb noch lange bei ihr sitzen, bis die diensthabende Schwester ihn zu gehen
bat, aber er schwieg die ganze Zeit, streichelte Nataljas Kopf und hielt ihre Hand. Sie weinte leise und untröstlich.
»Wenn du hysterisch wirst, sag ich das der Ärztin, dann kriegst du Beruhigungsmittel und darfst dein Kind nicht mehr stillen«,
warnte die Schwester.
»Gut«, sagte Natalja und wischte sich das Gesicht trocken, »ich werde nicht mehr weinen.«
Jeden Tag bat sie ganz ruhig, ohne Hysterie, man solle ihr Serjosha bringen. Schwestern und Pflegerinnen behandelten sie wie
eine Verrückte. Die Ärztin Elsa erklärte ihr sanft und geduldig, dass Serjosha nicht mehr lebte. Nataljawusste das, glaubte es aber nicht. Mochten sie denken und sagen, was sie wollten. Für sie lebte Serjosha.
Sie verbrachten noch vier Jahre in der Garnisonsstadt. Stas war ein gesunder, gescheiter Junge, und da er das einzige kleine
Kind in der Stadt war, wurde er von allen geliebt und verwöhnt. Natalja sprach nie mit jemanden über Serjosha, spürte aber
ständig seine unsichtbare Anwesenheit.
Die bunte Flickendecke, in die Serjosha eingewickelt gewesen war, hatte man Wladimir im Hospital zurückgegeben, und später
fand Natalja sie zusammengeknüllt in dem Sperrholzkoffer unter der Liege. Wenn es ihr schlecht ging – vor Erschöpfung, wegen
eines Streits mit ihrem Mann oder wegen Stassiks Launen, holte sie heimlich die Decke hervor, barg ihr Gesicht darin und saß
lange so auf dem Fußboden.
In den vier Jahren brachte es Oberleutnant Gerassimow zum Hauptmann. Seine Karriere lief ausgezeichnet, die Familie kehrte
nach Moskau zurück. Wegen der Ereignisse in der Tschechoslowakei wurde der Kaderbestand der Sicherheitsorgane verstärkt, und
Hauptmann Gerassimow bekam einen guten Posten in einer Abteilung der Hauptverwaltung der Grenztruppen. Und einen eigenen Schreibtisch
in einem Büro, das er sich mit weiteren Offizieren teilte, im berühmten Gebäude am Lubjanka-Platz.
Die junge Familie bezog bald eine schöne Zweizimmerwohnung unweit der Metrostation Krasnosselskaja. Natalja setzte als Fernstudentin
ihr Studium fort und arbeitete als Grundschullehrerin in einer Schule in der Nähe ihrer Wohnung. Stas ging in einen Betriebskindergarten
des KGB. Aber er war launisch, stellte sich krank, bekam auf dem Weg zum Kindergarten Tobsuchtsanfälle und benahm sich im
Kindergarten schlecht. Natalja musste sich von den Erzieherinnen immer wieder etwas Neues anhören: Stas hatte ein Mädchen
bis aufs Blut gebissen, weil es nicht mit ihmspielen wollte. Stas hatte in der Küche eine Packung Salz in einen Topf mit Griesbrei geschüttet. Er hatte ein Auto entzweigebrochen
und zertrampelt, weil ein anderer Junge es ihm nicht geben wollte. Beim geringsten Verbot, Widerspruch oder Tadel bekam er
Tobsuchtsanfälle. Sein Gesicht färbte sich dunkelrot, seine Augen wurden
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