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Der falsche Engel

Der falsche Engel

Titel: Der falsche Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polina Daschkowa
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lange das zerknitterte rosa Gesichtchen. Die Augen waren geschlossen. Er schlief und
     träumte. Er zog komische Grimassen, lächelte, runzelte die Stirn und öffnete den Mund wie ein hungriges Vogeljunges. Aber
     er war satt. Natalja hatte ihn vor zehn Minuten gestillt.
    »Das ist nicht Serjosha. Das ist das zweite Kind. Er ist satt. Ich muss Serjosha stillen.«
    »Wie hast du ihn genannt?«, fragte die Ärztin und nahm ihr den Jungen ab.
    »Ich weiß nicht.«
    »Aber Natalja, er ist bald eine Woche alt! Du musst ihm einen Namen geben. Sieh nur, was für ein kräftiger, hübscher Junge!
     Ein wahres Wunder. Stanislaw ist ein schöner Name. Solange er klein ist, kann man ihn Stas nennen oder Slawik. Wenn er ein
     bisschen größer ist, kriegst du noch drei Kinder oder so viel du willst, du bist jung und gesund. Also, hast du mich verstanden,
     Natalja?«
    »Ja.« Natalja nickte ergeben. »Ich habe verstanden. Stanislaw ist ein schöner Name. Stas. Stassik. Aber kann ich Serjosha
     wenigstens sehen?«
    Die Ärztin verließ wortlos das Zimmer und trug den kleinen Stanislaw hinaus.
    Natalja war allein.
    Sobald sie die Augen schloss, sah sie immer dasselbe Bild vor sich. Die leere, stille Chaussee. Leuchtende Vergissmeinnicht
     und Zeitheil auf dem grauen Granitfuß der Berge. Das feuchte Planendach über ihr. Zwei Schritte neben dem Jeep steht Wladimir
     mit einem bunten Bündel auf dem Arm.
    Sie wollte das Kind noch einmal sehen.
    Die Pantelejewna hatte ihr den zweiten Jungen gegeben, nachdem sie ihn gewindelt und in Nataljas Kittel eingewickelthatte. Er schrie laut und fordernd und verzog das rote, feuchte Gesicht. Natalja liebte auch ihn und freute sich über ihn,
     doch der Erstgeborene bedeutete ihr viel, viel mehr.
    »Nein, wie er schreit, der Kleine, sieh doch nur, ist er nicht ein fixes Kerlchen?« Die Feldscherin setzte eine Flasche süßen
     Rotwein an, die Natalja für sie eingepackt hatte, und nahm ein paar gierige Schlucke. »Auf deine Gesundheit, mein Junge, dass
     du groß und stark wirst!«
    Durch das Vogelgezwitscher drang fernes Motorengeräusch. Wladimir reichte der Pantelejewna das erste Kind und stellte sich
     mitten auf die Chaussee, um das langersehnte Auto anzuhalten.
    »Der hier ist ganz brav und still«, sagte die Feldscherin gerührt, »der reinste Engel. Sieh nur, wie fest er schläft.« Sie
     legte den Jungen auf den Sitz und griff wieder nach der Flasche.
    Natalja gefiel die Stille, die von dem bunten Bündel ausging, überhaupt nicht. Sie erschien ihr irgendwie kalt und geheimnisvoll.
     Diese Stille ließ sie frösteln. Sie legte den zweiten Jungen vorsichtig hin, langte ungeschickt nach dem ersten und hätte
     ihn beinahe fallen gelassen, so stark zitterten ihr die Hände.
    Er sah wirklich aus wie ein Engel. Sein Gesicht hatte sich geglättet und war nicht mehr grellrot, sondern weiß und durchsichtig.
    »Sergej«, flüsterte Natalja, »Sergej Wladimirowitsch Gerassimow. Serjoshenka.«
    Ein LKW hielt. Wladimir trug Natalja in die Kabine. Sie hielt noch immer das erste Kind auf dem Arm. Die Pantelejewna kletterte
     mit dem zweiten auf den Sitz neben Natalja.
    Der Fahrer, ein älterer kleiner Tuwine, begann zu singen, sobald er losgefahren war. Der monotone und endlosetuwinische Kehlkopfgesang schläferte Natalja, den kleinen Schreihals und die sturzbetrunkene Feldscherin allmählich ein. Sie
     erwachten erst in Abakan. Es war tiefe Nacht. Der Posten wollte das Tor lange nicht öffnen. Der LKW war fremd, der Fahrer
     sprach kaum Russisch. Doch zum Glück hatte der Garnisonsarzt dem Chefarzt Natalja per Funk angekündigt, und sie wurde erwartet.
    Die beiden Jungen wurden sofort weggebracht, Natalja untersucht und in ein Einzelzimmer gelegt.
    Am Morgen brachte man ihr ein Kind. Nur eins. Sie erkannte sofort den zweiten Jungen, der noch keinen Namen hatte. Sie fragte
     nach dem anderen, dem ersten. Die Schwester murmelte undeutlich, er sei ein bisschen krank.
    Während der zweite Junge trank, dachte Natalja an den ersten, an Serjosha. Um den zweiten machte sie sich keine Sorgen. Er
     wurde geholt und wiedergebracht. In den Pausen zwischen Stillen und Untersuchungen sank sie in schweren, unruhigen Schlaf.
     Wenn sie aufwachte, fragte sie immer wieder nach Serjosha und bekam keine klare Antwort.
    Am dritten Tag kam Wladimir herein, im weißen Kittel, mit Mütze und Mundschutz. Sie erkannte ihn nicht gleich, doch dann fing
     sie an zu weinen.
    Er wandte die Augen ab, versuchte zu scherzen, redete

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