Der falsche Engel
den dünnen Stapel Fotos zu denken, die er im Büro von Oberst Raiski gesehen hatte.
Die magere, strenge Alte im Sarg, die ihm ebenso fremd war wie sein neues Gesicht. Im Hospital der geheimen FSB-Basis hatte
man einen anderen ins Leben zurückgeholt und wieder zusammengeflickt.
Natalja Gerassimowa betrat die Wohnung ihres Sohnes und hängte ihren Mantel ordentlich auf einen Bügel. Sie wollte ein paar
Sachen für ihren Sohn zusammenpacken. In drei Tagen fuhren sie alle zusammen nach Griechenland.
Die Wohnung wirkte unbewohnt. Wahrscheinlich, weil Stas lange nicht hier übernachtet hatte.
Das Telefon klingelte.
Der Hörer blieb stumm. Sie meinte, der Anrufer würde es gleich noch einmal versuchen, und wartete eine Weile, doch das Telefon
klingelte kein zweites Mal.
Wahrscheinlich überprüft jemand, ob Stas zu Hause ist. Er muss unbedingt eine Nummernerkennung zuschalten lassen. Wladimir
hat immer gesagt …
Ehe sie sich erinnern konnte, was Wladimir zu diesem Thema immer gesagt hatte, erstarrte sie auf der Schwelle des Schlafzimmers
und schaute fassungslos auf das Bett.
Eine nackte Matratze. Zwei Kissen, eins auf dem Boden, eins auf einem Stuhl. In der schneeweißen Matratze gähnte ein scheußliches
Loch mit schmutzigbraunen Rändern.
Aus Angst vor einem Asthmaanfall schleppte sie sich mühsam in den Flur, nahm mit zitternden Händen ihr Asthmaspray aus der
Tasche und sprühte sich etwas in den Mund.
Diebe, schoss es ihr durch den Kopf. Natürlich, das waren bloß Diebe.
Sie überprüfte die Schreibtischfächer und stellte fest, dass das Geld noch vorhanden und überhaupt alles in Ordnung war. Mechanisch
griff sie nach einem Besen, begann zu fegen und bemerkte dabei einige feste Papierschnipsel, die von einem Schwarzweißfoto
stammten.
Sie rannte zurück zum Schreibtisch. Genau. Unter der Glasplatte fehlte das größte und schönste Foto von Stas. Sie musste rasch
die Sachen zusammenpacken und nach Hause zurückkehren. Vielleicht konnte Stas ihr erklären, was in seiner Wohnung passiert
war.
Sie öffnete den Schrank und holte Hosen, Hemden, T-Shirts, Jeans, Shorts und leichte Pullis heraus. Sie musste nur mit Stas
reden. Der Junge verheimlichte ihnen nun nichts mehr. Er hatte Angst, und er wusste, dass seine Eltern die Menschen waren,
die ihm am nächsten standen.
Natalja packte, schloss den Koffer und rief den Chauffeur Nikolai an, damit er hochkam.
Im Auto wurde ihr erneut schlecht. Sie schloss die Augen, versuchte sich zu entspannen und an etwas Angenehmes zu denken.
Sie musste ihre Kräfte schonen – für ihren Sohn.
»Mädchen, schone deine Kräfte, für deinen Sohn«, sagte die dicke, ältere Ärztin im Militärhospital in Abakan, »du darfst nicht
dauernd weinen. Davon versiegt die Milch. Begreif endlich, dass du unglaubliches Glück gehabt hast. Das Kind ist gesund, und
bei dir gab es keinerlei Komplikationen. Na, warum drehst du dich denn weg?«
Natalja sah die Ärztin durch einen Tränenschleier an und sagte kein Wort.
Die Ärztin hieß Elsa Schnittke und war eine verbannte Deutsche.
»In einem Jeep auf einer Bergstraße Zwillinge zur Welt zu bringen, mit einer betrunkenen Feldscherin, und dabei ein Kind am
Leben zu erhalten, das ist einfach ein Wunder.« Die Ärztin ließ sich auf einen Stuhl fallen und legte Natalja ihre kalte,
weiche Hand auf den Kopf. »Ich geb dir einen guten Rat. Vergiss den zweiten Jungen. Vergiss ihn, und Schluss. Es hat ihn nie
gegeben.«
Natalja wehrte mit einem heftigen Kopfschütteln die Hand der Ärztin ab und sagte mit heiserer Stimme böse: »Er ist als Erster
geboren. Ich habe ihn Serjosha genannt. Bringen Sie mir bitte meinen Sohn. Er musst gestillt werden.«
»Hör auf, Natalja!«, schrie die Ärztin. »Oder soll ich dir einen Psychiater schicken?«
»Nein. Ich bin nicht verrückt«, knurrte Natalja wütend, »wenn ich wirklich verrückt wäre, dann könnte ich vielleicht glauben,
dass ich nur ein Kind geboren habe.«
Elsa runzelte die Stirn und sagte leise und monoton: »Im zweiten Stock liegt eine Frau, die ihren einzigen Sohn verloren hat.
Sie kann nie mehr Kinder haben, ihr wurde die Gebärmutter entfernt. Komm, wir gehen zu ihr, dann siehst du, was echter Kummer
ist. Dann wirst du dich schämen.«
»Wo ist Serjosha?«
Die Ärztin ging hinaus und kam mit einem Säugling auf dem Arm wieder.
»Hier ist dein Serjosha. Hier ist er. Beruhige dich.«
Natalja nahm den Jungen und betrachtete
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