Der falsche Engel
Raiski lächelte breit. »Tja, so weit die erste Variante. Nun die zweite. Nach der wir jetzt vorgehen. Um
Ihre Sicherheit zu gewährleisten, wurde beschlossen, Ihr Aussehen zu verändern, Sie mit neuen Papieren zu versorgen und so
weiter. Zum Glück haben Sie keine Familie. Ihre einzige nahe Angehörige, Ihre Mutter, ist gestorben. Sie fangen ein völlig
neues Leben an. Eine einmalige Gelegenheit – die Biographie eines Neugeborenen und die Erfahrung eines Kommandeurs der Sondertruppen
der Abteilung Aufklärung. Verstehen Sie mich endlich?«
»Fast.«
»Was ist noch unklar?«
»Warum dieses Gespräch erst jetzt, warum nicht schon vor der Operation?«
»Das hat sich so ergeben.« Raiski zuckte die Achseln. »Ohne besondere Absicht. Niemand wollte Sie demütigen oder mürbe machen.
Die Idee musste noch reifen, ich war noch nicht so weit, mit Ihnen zu reden, ich wusste nicht recht, wie ich Sie benutzen
würde, doch dann kamen extreme Umstände hinzu, und ich musste sehr schnell handeln. Aber das ist vorbei. Möchten Sie wissen,
wie Sie aussehen werden, wenn die Narben verheilt sind?« Ohne eine Antwort abzuwarten, zog er mehrere Farbfotos aus der Kitteltasche.
»Sie haben Glück«, bemerkte Raiski, »dieser Mann hätte auch weit weniger attraktiv sein können, und trotzdem hätten Sie sein
Doppelgänger werden müssen. Zumindest für eine gewisse Zeit. Also, damit Sie Bescheid wissen: Er heißt Stanislaw Wladimirowitsch
Gerassimow und ist genauso alt wie Sie, sechsunddreißig. Überhaupt haben Sie vieles gemeinsam. Ihr Vater war beim Militär,
sein Vater ist pensionierter FSB-General. Sie sind beide alteingesessene Moskauer, haben eine ähnliche Stimmlage, die gleiche
Größe, die gleiche Blutgruppe, die gleiche Augen- und Haarfarbe, den gleichen Teint. Zwar sind Ihre Haare im Gegensatz zu
seinen schon ein wenig grau, aber das ist kein Problem. Sie werden sich die Haare färben und einige seiner kleinen Gewohnheiten
übernehmen müssen. Zum Beispiel trägt er ausschließlich Nappalederschuhe, benutzt ein Eau de Cologne von Gucci und trinkt
kaum Alkohol. Er fährt gut Auto, ist ordentlich und reinlich. Seine größte Schwäche sind die Frauen. Er trifft sich mit mehreren.
Das ist sozusagen der einzige Sport, der ihm Spaß macht. Er war nie verheiratet. Meidet Situationen, die eine Entscheidung
verlangen. Hat panische Angst vor jeder Verantwortung, auch vor der für sich selbst. Er ist verzärtelt, infantil. Physisch
und psychisch schwach. Aber ich will Sie nicht vor der Zeit mit Informationen vollstopfen. Das ist ein gesondertes Thema.
Wie Sie sehen, sind Sie trotz der äußeren Ähnlichkeit vollkommen verschieden. Aber wissen Sie, was Sie beide wirklich gemeinsam
haben?« Raiski machte eine vielsagende lange Pause, beugte sich zu Sergej und flüsterte ihm ganz leise ins Ohr: »Sie werden
beide von unserem lieben Freund Schamil Ismailow gesucht.«
Bis jetzt hatte Sergej entspannt dagesessen, nach alter Sondertruppengewohnheit die Arme locker herabbaumelnd, die Beine ausgestreckt.
Doch nach diesem Satz presste er die Zähne aufeinander, warf den Kopf zurück, und seine entzündetenAugen funkelten lebhaft. Raiski war sichtlich zufrieden mit dieser Reaktion, er lächelte beifällig und fuhr fort: »Sie wissen,
wie viel Kraft und Zeit wir schon auf Ismailow verwandt haben. Er entwischt den erfahrensten Agenten und aus den raffiniertesten
Fallen. Das hat er an der KGB-Hochschule gelernt. Lustig, nicht? Schade, dass Sie noch nicht lachen dürfen. Schamil Ismailow
hat die Fakultät für Sabotage und Subversion absolviert, mit Auszeichnung. Er versteht es, Spuren zu verwischen und unterzutauchen.
Ismailow hat ein vollkommen indifferentes Gesicht, keinerlei besondere Kennzeichen. Er sieht nicht aus wie ein Kaukasier.
Er braucht nur ein winziges Detail zu verändern, schon ist er nicht wiederzuerkennen. Aber ich denke, Sie, Major, würden ihn
mit jeder Tarnung erkennen, selbst im Dunkeln und mit verbundenen Augen. Und auch das macht Sie so einzigartig. Denn bisher
ist niemand von unserer Seite, der Ismailow so aus der Nähe gesehen hat, lebend davongekommen. Richtig?«
Sergej nickte schweigend.
»Ich habe alle mir bekannten Versuche, Ismailow zu verhaften und zu liquidieren, analysiert und eine klare Gesetzmäßigkeit
herausgefunden«, fuhr Raiski fort. »Egal, wer die Operation plant, die Abteilung Aufklärung, das Innenministerium oder unsere
Behörde –
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