Der falsche Engel
drosseln, obwohl er den Motorradfahrer sah. Dieser hatte keine Wahl – er musste, ein Bein auf dem Boden, langsam mit dem
Motorrad rückwärts rollen, bis die Straße breiter wurde.
Aus der Fahrerkabine lehnte sich der dunkelgesichtige Fahrer. Neben ihm eine undeutliche weibliche Silhouette.
»Idiot, Wichser!«, rief der Motorradfahrer auf Russisch, während er rückwärts rollte, so schnell er konnte. Heißer, beißender
Schweiß rann ihm in die Augen, der Rückspiegel war verstellt. Der Tanker hupte höhnisch. Der Motorradfahrer zuckte zusammen,
sprang unwillkürlich zurück, zusammen mit dem Motorrad, und spürte hinter sich Leere.
Der Tankwagenfahrer versuchte zu bremsen, doch das behäbige Gefährt rollte träge weiter – das Gefälle war sehr steil.
Das wars. Gleich stürze ich ab, dachte der Motorradfahrer noch.
Sein Bein beschrieb einen hohen Bogen, er sprang zurück, und einen Sekundenbruchteil später rutschte das Motorrad in den Abgrund.
Tief unten explodierte platschend die glatte Wasserfläche.
»Das ist heute unsere letzte Behandlung«, sagte Julia. »Bei Ihnen verheilt wirklich alles so schnell wie bei einem Hund.«
Sergej schloss die Augen und hielt sein Gesicht unter den dünnen Laserstrahl.
»Sie kommen also nicht mehr her?«, fragte er.
»Nein. In einem Monat entferne ich die restlichen Narben.«
»Treffen wir uns wieder hier?« Er hüstelte verlegen wegen der dummen Frage.
»Nein, ich komme nicht mehr hierher. Und Sie wahrscheinlich auch nicht. Wir treffen uns in der Klinik.«
»Wo ist denn Ihre Klinik?«
»Im Zentrum von Moskau. Meiden Sie vorerst die direkte Sonne. Seien Sie vorsichtig beim Rasieren. Ich lasse Ihnen ein paar
spezielle Gels, Flüssigseife und Creme da. Benutzen Sie nur die.«
»Danke. Ich habe verstanden.«
»Bitte.« Sie lächelte nur mit den Lippen. Ihre Augen blieben ernst.
Während sie das Lasergerät wieder einpackte, schwiegen sie beide angespannt.
»Alles Gute«, verabschiedete sie sich nüchtern, ging zur Tür, räusperte sich und setzte hinzu: »Seien Sie bitte vorsichtig.«
»Warten Sie!«, rief Sergej so laut, dass sie zusammenzuckte. »Warten Sie, ich bringe Sie.«
Er rannte ihr so eilig nach, dass sie in der Tür zusammenstießen.
»Entschuldigung.« Er umfasste automatisch ihre Schultern, als könne sie sonst stürzen. Einige Sekunden standen sie so da,
mit angehaltenem Atem und bemüht, sich nicht in die Augen zu sehen.
»Ich bringe Sie zum Auto, wenn Sie erlauben.« Seine Stimme klang hölzern.
»Natürlich.«
Sie ging furchtbar schnell, und er glaubte, sie wolle ihn so rasch wie möglich loswerden. Schweigend liefen sie die Hauptallee
hinunter zum Tor. Er überlegte fieberhaft, was er noch sagen könnte, aber in seinem Kopf rumorte ein hoffnungslos idiotischer
Monolog, von dem er kein Wort laut sagen konnte.
Ich werde sie nie wiedersehen. In einem Monat wird alles anders sein, wer weiß, ob ich überhaupt zu ihr in die Klinik gehen
kann, nichts ist sicher. Ein einsamer Jäger, der hinter Ismailow her ist, sollte sein Testament machen und sich einen Platz
auf dem Friedhof suchen. Ich habe nichts zu vererben und auch niemanden, dem ich etwas vererben könnte. Ich bin gar nicht
vorhanden, ich bin ein Geist, der namenlose Schatten eines miesen Schwächlings.
»Hat Raiski Ihnen endlich etwas erklärt?«, fragte sie kaum hörbar, als sie bereits vor ihrem dunkelroten Škoda standen.
»Ja, wir hatten ein ausführliches Gespräch.«
»Und wozu das ganze grausame Spektakel, warum durften Sie von der plastischen Operation vorher nichts wissen? Schon gut, Sie
müssen mir das nicht erzählen, das ist bestimmt Staatsgeheimnis.«
»Überhaupt nicht. Der Oberst ist nur sehr beschäftigt. Erhatte keine Zeit, vor der Operation mit mir zu sprechen. Ach, zum Teufel mit dem Oberst. Lassen Sie uns lieber …«
»Was?« Sie sah ihn mit seltsam blanken Augen an.
Sie sah ihn an und wartete, was er zum Abschied sagen würde, und er hatte keine Ahnung, wie er sie noch wenigstens ein paar
Minuten aufhalten konnte.
»Ach, nichts«, murmelte er ärgerlich, »auf Wiedersehen.«
Sie nickte schweigend, trat einen Schritt zurück, öffnete die Wagentür und setzte sich ans Steuer. Er machte kehrt und lief
die Allee hinauf, ohne sich noch einmal umzusehen. Der Motor heulte auf, verstummte dann, und ein kurzes Hupen ertönte. Sergej
verlangsamte für einen Augenblick seine Schritte und wollte schon zurückrennen, bis er begriff,
Weitere Kostenlose Bücher