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Der falsche Engel

Der falsche Engel

Titel: Der falsche Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polina Daschkowa
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schon zum dritten Mal her, bestellte für ein paar Lepto und war unverschämt für zehntausend Drachmen. Er hatte
     sich wieder nicht die Mühe gemacht, seiner dürftigen Bestellung ein einfaches »Please« hinzuzufügen, und würde bestimmt wieder
     kein Trinkgeld geben. Es ging nicht um das bisschen Kleingeld, Spiros war auf sein Trinkgeld nicht angewiesen. Es ging um
     die Umgangsformen, um elementare menschliche Höflichkeit, jawohl.
    Doch heute sah der Gast, nachdem er das Bestellte bekommen hatte, Spiros mit seinen unguten Augen durchdringend an und fragte:
     »Vermietet in Ihrem Dorf jemand ein Zimmer?«
    Die Frage klang so seltsam, dass sie Spiros verwirrte. Das Dorf war alles andere als ein Ferienort. Eine Handvoll Steinhäuschen,
     die wie Schwalbennester sechshundert Meter überm Meeresspiegel an einem steilen Felshang klebten, eine Kirche, ein kleiner
     Supermarkt, eine Tankstelle, das Café des alten Spiros und sonst nichts. Bis zum nächsten Strand musste man eine schmale Serpentinenstraße
     hinunterfahren. Touristen kamen hier nur zufällig durch, auf dem Weg zum berühmten Felsenkloster des heiligen Panteleimon
     oder wenn sie die Insel erkundeten. Hier hatte noch nie jemand Zimmer vermietet. Den letzten Satz sagte Spiros laut, wobei
     er die englischen Worte langsam und sorgfältig aussprach, wie ein Schüler.
    »Warum?«, fragte der Gast. Das kurze »Why« klang wie eine Drohung. Spiros wich unwillkürlich zurück.
    »Ein paar hundert Meter weiter unten finden Sie ausgezeichnete Appartements und Villen. Einen Katzensprung vom Strand entfernt
     und erstklassiger Service, Sir!«
    »Aber ich möchte hier wohnen, nur drei Tage.« Seine Stimme klang nun weicher, er forderte nicht mehr, er bat, flehte beinahe.
     »Ich hab das Meer satt, ich mag die Berge.«
    »Nein.« Spiros verzog die schmalen Lippen zu einem liebenswürdigen Lächeln. »Tut mir sehr leid. Verzeihen Sie, aus welchem
     Land kommen Sie?«
    Der Gast antwortete nicht, wandte sich ab und richtete seinen reglosen toten Blick in die Ferne, auf den Horizont. Rechts
     schnitten die blaugrauen nackten Felsen der albanischen Küste die gerade Linie des Meeres ab.
    Nach fünf Minuten hatte der Gast Metaxa und Wasser ausgetrunken, stülpte seinen glänzenden roten Helm auf, warf beim Aufstehen
     einen Stuhl um und verließ das Café, ohne ihn wieder aufzuheben. Aufheulend startete das Motorrad – es flog fast über die
     schmale Bergstraße.
    »Ich könnte wetten, das gibt früher oder später einen Unfall.«
    »Hör auf, Jephimia, mal nicht den Teufel an die Wand«, sagte Spiros stirnrunzelnd. Auf einmal tat ihm der Mann mit der sonnenbrandgeröteten
     Haut und den toten Augen leid.
    Der Motorradfahrer legte sich gewagt in eine gefährliche Kurve. Der Wind kühlte angenehm. Die Straße wurde immer steiler und
     schmaler. Rechts erhoben sich schroffe Felsen. Die Mittagssonne ließ jedes Detail der Landschaft unglaublich glänzen und verwandelte
     das matte Straßenpflaster in Perlen. Links gähnte ein tiefer Abgrund. Da unten lag glatt und reglos das Meer, ein riesiger
     Spiegel, in den der sattblaue wolkenlose Himmel blickte. Der Motorradfahrer bremste ab; ein offener Jeep kam ihm entgegen,
     in dem an die zehn junge Urlauber saßen, dunkelgebräunt, mitSonnenbrillen und bunten Seidentüchern. Hardrock und Motorgeheul übertönte alles andere. Der Motorradfahrer wich nach links
     aus und stemmte seinen Fuß ein paar Zentimeter vorm Abgrund gegen den Boden. Sein kaputter Turnschuh rutschte über den spitzen
     Kies, ein paar Steinchen gerieten in das Loch am großen Zeh. Der Jeep glitt vorbei, mit ihm die ohrenbetäubende Musik. Unter
     den jungen Leuten bemerkte der Motorradfahrer ein blondes Mädchen, höchstens achtzehn, das Haar kurzgeschnitten wie ein Junge.
     Ihre Haut war wesentlich dunkler als ihr Haar, ihr knappes Oberteil verhüllte die schwere, braungebrannte Brust kaum, um ihren
     Hals verlief ein schmales grellrotes Tattoo, das aussah wie ein Würgemal. Sie wandte sich um und winkte ihm zu.
    Er stellte den Motor ab, schob das Motorrad, auf einem Bein hüpfend, ein Stück weiter, zog den Turnschuh aus und schüttelte
     die Steine heraus. Kaum hatte er den Schuh wieder angezogen und sich auf das Motorrad gesetzt, als die Straße dröhnte und
     die riesige Schnauze eines Tankwagens um die Kurve kam.
    Das silbrige Ungetüm mit rotblauer Pepsireklame nahm die ganze Breite der Straße ein. Der Fahrer dachte nicht daran, das Tempo
     zu

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