Der falsche Engel
»wenn Palytsch wirklich so einen Rochus auf diesen Typen hat, wieso haben wir ihn
dann heute nicht einfach umgenietet? Was ist das für ein komisches Spiel?«
»Eben weil Palytsch einen gewaltigen Rochus auf ihn hat, haben wir ihn nicht umgenietet, sondern nur erschreckt«, sagte Irina
langsam und blies drei Rauchkringel aus.
»Kapier ich nicht, echt.« Der Bärtige zuckte die Achseln. »Schuldet er Palytsch einen Haufen Kohle, und wir haben ihn erschreckt,
damit ers zurückzahlt?«
Der Kellner stellte ihr ein Glas Saft und eine Tasse Espresso hin. Sie legte die Zigarette weg, trank einen Schluck Saft und
sagte nachdenklich: »Nein, Gundos, du wirst nie Boss.«
»Wieso?«, fragte der Bärtige beleidigt.
»Weil du nur Geld im Kopf hast. Der Mann, den wir heute nicht umgebracht haben, schuldet Palytsch natürlich was. Aber kein
Geld. Seine Schuld ist wesentlich größer.«
»Ach was, Irina, mach nicht solchen Wind. Mehr als Kohle ist nur sehr viel Kohle.«
»Zehn Jahre Leben«, murmelte Irina, »die besten zehn Jahre. Das schuldet er ihm.«
Dreiundzwanzigstes Kapitel
Von seinem früheren Leben war Sergej nur der Vorname geblieben. Raiski hatte ihm zwei Ausweise gegeben, beide mit dem Foto
von Stanislaw. Einen auf den Namen Stanislaw Gerassimow, Russe, geboren 1964, einen auf den Namen Sergej Naidjonow, ebenfalls
Russe, selbes Geburtsjahr. Auf beide Namen erhielt Sergej einen Führerschein. Auf den Namen Gerassimow außerdem drei Fahrzeugpapiere
und mehrere Kreditkarten, auf den Namen Naidjonow – den Dienstausweis eines FSB-Majors.
»Sie hatten einen kleinen Autounfall«, erklärte ihm Raiski, »Sie lagen die ganze Zeit in einem Militärhospital bei Moskau
und wollten niemanden sehen, auch nicht Ihre beiden ständigen Geliebten.«
Er reichte ihm die Fotos von zwei Frauen. Die erste, eine rundgesichtige Blondine mit naiven blauen Augen, hieß Galina Katscherjan.
Bei ihr hatte Stanislaw übernachtet, als der Anschlag auf sein Auto verübt wurde.
»Sie kennen sie seit Ihrer Kindheit. Galinas Großmutter war Ihre Kinderfrau. Sie benutzen sie hin und wieder, wenn gerade
nichts Interessanteres zur Hand ist. In nächster Zeit wird sie kaum auftauchen, denn sie trifft sich nur mit Ihnen, wenn ihr
Mann auf Dienstreise ist und ihr Kind bei der Oma. Aber womöglich wird sie anrufen.«
Die zweite Dame, eine Brünette mit kurzem Haar, sinnlichem Mund und wachsamen schwarzen Augen, hieß Evelina Derjabina. Sergej
erfuhr, dass sie weder Mann noch Kinder hatte, früher als Fotomodell in einer angesehenen Agentur gearbeitet hatte und nun
Liebesromane schrieb.
»Keine Angst, die müssen Sie nicht lesen«, beruhigte ihn Raiski, »Sie lesen generell nicht, das weiß sie und ist deshalb nicht
beleidigt. Sie haben sich vor fünf Jahren kennengelernt, waren zwei Monate lang in echter Leidenschaft entbrannt und fuhren
zusammen nach Spanien. Nein, nein, keine Angst vor sentimentalen Erinnerungen. Wenn Evelina auftaucht, werden Sie über anderes
reden. Hier, sehen Sie sich das an und versuchen Sie, es sich einzuprägen.« Raiski legte eine dicke Mappe vor ihn hin. »Wenn
etwas unklar ist, genieren Sie sich nicht, fragen Sie.«
Die Mappe enthielt eine Kopie der Akte zum Mord an dem Chauffeur Georgi Sawjalow. Sergej erfuhr von dem Scherz mit den Kreditkarten
und von der Pistole in Evelinas Wohnung.
»Das ist irgendwie zu kompliziert für Ismailow«, murmelte er, während er umblätterte, »diese Scherze mit den Kreditkarten
– er würde einfach das Geld abheben und sich in die Tasche stecken.«
»Man sieht sofort, dass Sie noch nie mit Kreditkarten zu tun hatten.« Raiski lächelte nachsichtig. »Zum Geldabheben braucht
man einen speziellen Pincode.«
»Na schön. Angenommen, Ismailow konnte kein Geld abheben«, räumte Sergej ein, »aber er hätte doch nicht den Chauffeur getötet,
sondern Stanislaw.«
»O nein, Major«. Raiski runzelte die Stirn. »Ich hab die Situation hundertmal hin und her gewälzt. Das Ganze ist viel simpler,
als es auf den ersten Blick scheint. Das Raubtier spielt mit seinem Opfer. Es will zuerst die Todesangstin den Augen des Opfers sehen, bevor es sich am frischen Fleisch labt.«
»Klingt ziemlich melodramatisch«, spottete Sergej, »Raubtier, Opfer. Na gut, nehmen wir an, das stimmt. Aber schließen Sie
andere Möglichkeiten völlig aus?« Sergej sah Raiski an und blickte statt in dessen Augen in die Lichtreflexe der Brillengläser.
»Sind Sie
Weitere Kostenlose Bücher