Der falsche Engel
sicher, dass Ismailow überhaupt an diesem Stansilaw interessiert ist? Vielleicht treibt da ja ein Dritter seine
Scherze mit ihm?«
»Ich schließe gar nichts aus«, sagte Raiski kopfschüttelnd, »unser Held ist eine ziemlich fiese Gestalt und hat vermutlich
nicht nur Ismailow beleidigt. Aber der Tschetschene hat die Kränkung garantiert nicht einfach so runtergeschluckt. Deshalb
ist es am ehesten Ismailow, der Stanislaw im Moment das Leben schwermacht.«
»Er würde ihn einfach töten oder zum Krüppel schlagen lassen«, wiederholte Sergej düster. »Das ist nicht er. Sie irren sich,
Oberst.«
»Selbst wenn ich mich irre, verlieren wir beide nichts.« Raiski zuckte die Achseln. »Sie hätten mit Ihrem alten Gesicht sowieso
nicht weiterleben können. Sie mussten ein anderer werden. Warum also nicht Stanislaw? Das gibt uns auf jeden Fall eine reale
Chance, Ismailow zu fassen.«
Sergej zuckte schweigend die Achseln und vertiefte sich in das Protokoll der Befragung der Zeugin Evelina Derjabina. Je weiter
er las, desto erstaunter war er. Die Frau sprach über den Mann kalt, fremd und angewidert. Sie wusste, was er wert war, und
schlief trotzdem mit ihm. Das gab es nicht einmal bei Tieren. Was wollte sie von ihm? Was wollte er von ihr?
»Ich kann das nicht«, sagte er, ohne den Blick zu heben.
»Was?«, fragte Raiski alarmiert.
»Ich kann nicht Stanislaw werden. Ich verstehe nichts an diesem Mann, nichts an seiner Welt.«
»Ach, hören Sie auf!« Raiski runzelte die Stirn. »Machen Sie sich nicht kleiner, als Sie sind. Seine Welt ist nicht das Newtonsche
Binom. Sie ist ziemlich simpel und primitiv.«
»Ja, mag sein. Doch Evelina macht nicht den Eindruck einer primitiven Idiotin. Sie wird mich knacken wie eine taube Nuss.«
»Kann sein«, bestätigte Raiski. »Aber nicht sofort. Sie wird natürlich einige Seltsamkeiten und Veränderungen an ihrem Freund
bemerken, aber nicht gleich auf die richtige Lösung kommen. Vergessen Sie nicht, Sie sind krank. Sie sind nach dem Unfall
noch nicht völlig wiederhergestellt. Sie hatten eine Gehirnerschütterung. Hauptsache, eine andere Frau enttarnt sie nicht.
Die Freundin von Ismailow. Aber das wird wohl kaum passieren. Sie kennt Sie nicht so gut.«
»Werde ich mich mit ihr treffen müssen?«
»Aber ja! Sie werden mit einem großen Blumenstrauß zu ihr gehen und sie um Verzeihung bitten. Überhaupt müssen Sie, um eine
Weile mit dem Gesicht von Stanislaw Gerassimow zu leben, zunächst einmal ein paar Fehler ihres ungeschickten Doppelgängers
ausbügeln. So, Schluss für heute, Major. Lesen Sie die Akte genau, und wenn Sie müde sind, sehen Sie sich die Videos mit Stanislaw
an. Sie müssen seine Mimik und seine Gesten genau studieren. Üben Sie vorm Spiegel. Wenn nötig, wird ein professioneller Schauspiellehrer
mit Ihnen arbeiten.«
An der Tür blieb Sergej noch einmal stehen.
»Und dann?«
»Was meinen Sie?« Der Oberst hob erstaunt die Brauen.
»Nachdem ich alle seine Fehler ausgebügelt habe. Was werde ich dann tun? Und wo wohnen?«
»Ach, davon reden Sie?« Raiski runzelte leicht die Stirn. »Tja, in Ihre alte Wohnung können Sie natürlich nicht zurück. Da
wohnen inzwischen andere, und eine Entschädigungwerden Sie auch nicht bekommen – leider. Aber ein Zimmer im Wohnheim der FSB-Akademie kann ich Ihnen garantieren. Und Arbeit
auch. Der Rest hängt von Ihnen ab.«
Auf dem Couchtisch am Kopfende des Bettes klingelte melodisch das nagelneue Mobiltelefon.
Dieses winzige silbergraue Spielzeug hatte Angela in Geschenkverpackung und mit goldener Schleife vorgefunden, als sie aus
dem Krankenhaus nach Hause kam. Ihre Haushälterin Mila erklärte, das habe ein Kurier vor ein paar Stunden abgeliefert und
gesagt, es sei alles bezahlt, sie müsse nur unterschreiben.
Kaum hatte Angela es angeschaltet, klingelte es.
»Gratuliere zur Heimkehr, mein Vögelchen«, gurrte Schamil Ismailow, »wie geht es dir?«
Sie bedankte sich für das Geschenk. Er erklärte, sie müsse es ständig bei sich tragen.
»Schalt es nie aus. Unter dieser Nummer werde nur ich dich anrufen, nur ich. Sonst niemand. Wenn ich anrufe, gehst du mit
dem Telefon sofort ins Bad und lässt das Wasser laufen. Hast du verstanden?«
»Kann ich dich auch anrufen?«
»Nein. Vorerst nicht.«
»Warum wolltest du dich mit mir treffen?«
»Ich hatte einfach Sehnsucht.«
»Du lügst. Du wolltest irgendwas von mir.«
»Nicht doch, meine Kleine. Sag bloß, du bist
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