Der falsche Engel
Viertels, eine Frau unbestimmten Alters, voller Rüschen und Schleifchen
und mit verschiedenfarbigen Kinderhaarspangen. Angela sah sie oft vorm Bäcker, vor der Apotheke und auf einer Bank im Hof.
In ihrem wunderlich entstellten Gesicht saßen ein riesiger, ewig lächelnder zahnloser Mund und eine gespaltene platte Nase.
Ein Auge war fast vollständig von dem bläulichen Lid verdeckt, das andere weit geöffnet. Jetzt stand sie allein auf dem leeren
Hof und sprach mit verstellten Stimmen, als spiele sie mit sich selbst Mutter und Tochter.
Vierundzwanzigstes Kapitel
Der silbergraue VW Beetle sah aus wie ein hübsches neues Spielzeug. Sergej glaubte nicht, dass dieser Winzling fahren konnte,
bis er den Motor anließ.
Aus der Stereoanlage ertönte Musik, und der Klang war von einer Qualität, als säße er im Großen Saal des Konservatoriums.
Sergej drehte eine feierliche Runde auf demGelände der Militärbasis, stellte das Auto bedauernd ab und ging in Raiskis Büro.
»Als ob Sie je im Konservatorium gewesen wären«, spottete Raiski herablassend, als Sergej ihm seine ersten Eindrücke mitteilte.
»War ich. Mit meiner Mutter. Sie war Pianistin.« Er stockte, als sein Blick auf das eisige Blitzen der Brillengläser traf.
»Stanislaw Gerassimow war nie im Konservatorium. Stas kann ernste Musik nicht ausstehen.« Raiski räusperte sich und setzte
hinzu: »Wenn Sie auf den Friedhof fahren möchten, sollten Sie das am besten morgen früh tun, bevor Sie sich legalisieren.
Dabei können Sie sich gleich an den Wagen gewöhnen. Wie heißt Ihr Vater?«
»Wladimir Gerassimow.«
»Was ist er?«
»FSB-General, seit drei Jahren im Ruhestand. Sie waren ihm unterstellt. Jetzt ist er Vorstandschef der Bank ›Triumph‹.«
»Ihre Mutter?«
»Natalja Gerassimowa. War mal Grundschullehrerin.«
»Wie heißt die Firma, die Sie leiten?«
»Omega.«
»Die Sekretärinnen?«
»Rita Simkina, brünett, Marina Stepanzowa, rothaarig.«
»In welchem Verhältnis stehen Sie zu den beiden?«
»Mit Marina habe ich geschlafen, mit Rita will ich noch. Beide schreie ich hin und wieder an. Pfui Teufel, widerlich …«
»Tja, gewöhnen Sie sich daran. Im Übrigen müssen Sie vorerst mit niemandem schlafen, Sie brauchen nach dem Unfall noch eine
ganze Weile, bis Sie wiederhergestellt sind. Und anschreien müssen Sie auch niemanden. Sie werden kaum in der Firma auftauchen.
Wie heißt der Chef des Sicherheitsdienstes der Bank ›Triumph‹?«
»Jegor Pleschakow.«
»Wann haben Sie ihn das letzte Mal gesehen und gesprochen?«
»Ich war am Tag nach der Ermordung des Chauffeurs Georgi Sawjalow in der Bank.«
»Georgi. Sie nannten den Chauffeur immer nur Georgi, an seinen Familiennamen erinnern Sie sich gar nicht. Weiter.«
»Ich war in der Bank, um zu klären, warum meine Kreditkarte gesperrt ist. Ich wurde in Pleschakows Büro geführt. Dort befand
sich Wladimir Gerassimow.«
»Ihr Vater.« Raiski grinste schief. »Dort befand sich Ihr Vater. Wussten Sie bereits, dass Ihr Chauffeur ermordet worden war?«
»Nein. Aber das ist nicht die Wahrheit. Ich habe gelogen.«
»Halt, stopp. Was improvisieren Sie da?« Raiski nahm die Brille ab und sah Sergej erstaunt an.
»Ich habe mir die Videoaufzeichnung des Gesprächs im Büro des Sicherheitschefs dreimal angesehen. Mich wundert, dass die anderen
nicht merkten, dass Stas lügt. Schön, der General ist sein Vater, er war sehr nervös und ist überhaupt parteiisch. Aber Pleschakow
hätte es merken müssen.«
»Ob er es gemerkt hat oder nicht, werden wir beide sowieso nicht erfahren.« Raiski zuckte die Achseln. »Sie haben gelogen,
weil Sie kleinmütig abgehauen sind, als Sie die Leiche des Chauffeurs im Auto entdeckten.«
»Bin ich etwa ein Idiot?«
»Nein. Aber Sie sind schrecklich feige und faul. Also, Sie sind zusammen mit Ihrer Freundin Evelina abgehauen, weil Sie ums
Verrecken nicht mit der Miliz reden, eine Aussage machen wollten. Darin zeigt sich Ihr ganzes Wesen. Jemanden töten könnten
Sie kaum, aber wegrennen, einen Menschen in hilfloser Lage lassen – das allemal.«
Sergej zog eine Schachtel Chesterfield aus der Tasche und wollte sich eine Zigarette anzünden, doch der Oberst nahm sie ihm
ab und reichte ihm seine Schachtel.
»Sie rauchen nur ›Parlament light‹. Ach ja – ich habe ein Geschenk für Sie.« Er zog eine Schreibtischschublade auf und nahm
eine hübsch verpackte Schachtel heraus. Sie enthielt ein nagelneues Zippo-Feuerzeug mit
Weitere Kostenlose Bücher