Der falsche Engel
mir immer noch böse?«
»Nicht mehr. Aber ich verstehe trotzdem nicht – warum sollte ich vor einer Woche das Krankenhaus verlassen?«
»Ich musste überprüfen, wie ernsthaft du überwacht wirst.«
»Konntest du dir das nicht auch ohne Überprüfung denken?«
»Doch, schon. Sag mal, deine Ärztin, was ist die eigentlich für ein Mensch?«
Angela krampfte sich unangenehm der Magen zusammen.
»Ich hab dich gebeten, sie in Ruhe zu lassen!«, schimpfte sie so laut, dass Mila anklopfte und besorgt fragte, ob alles in
Ordnung sei. Angela antwortete, es sei alles okay, und sprach im Flüsterton weiter. »Kapierst du nicht, dass sie sich deinetwegen
beinahe geweigert hätte, mich zu operieren?«
»Reg dich nicht auf, Kleines. Das Geld ist bezahlt, ihr bleibt nichts weiter übrig. Sag mal, hat sie dir irgendwelche Fragen
gestellt?«
»Was denn für Fragen? Sie behandelt mich. Was willst du bloß von ihr?«
»Worüber habt ihr im Auto gesprochen?«
»Über die Behandlung. Worüber sonst?«
»Du hast in ihrem Beisein mit mir telefoniert. Hat sie gefragt, mit wem du gesprochen hast?«
»Sie hat überhaupt nichts gefragt. Sie interessiert sich einen Scheiß für dich!« Angela schrie wieder.
»Nicht so laut, Mädchen«, mahnte Schamil sanft.
»Entschuldige«, flüsterte Angela.
»Schon gut, Kleines. Warum war sie bereit, dich nach Hause zu fahren?«, fragte er nachdenklich, als rede er mit sich selbst.
»Einfach so! Ich hab sie darum gebeten, und sie hat ja gesagt. Gena war krank und hatte mir keine Kopeke dagelassen. Hätte
ich etwa mit der Metro fahren sollen?«
»Beruhige dich und versuch dich zu erinnern, worüber du mit der Ärztin geredet hast. Ich rufe dich in den nächsten Tagen an.«
Angela verließ das Bad und warf das Telefon von sich, als sei es eine widerliche Kröte.
Was, wenn ich beim nächsten Anruf nicht ins Bad gehe, dachte sie. Meine Wohnung ist voller Wanzen. Werde ich wohl irgendwann
wieder normal leben können, wie ein Mensch und nicht wie die Hure eines tschetschenischen Terroristen? Aber was heißt schon
normal? Was wäre ich ohne Schamil? Eine kleine Tingeltangelsängerin.
Sie setzte sich in einen Sessel und blätterte in Zeitschriften. Die Hochglanzseiten wimmelten von Bildern ihrer Bekannten.
Ein Bursche mit meckerndem Falsett hatte eine sechzigjährige Berühmtheit geheiratet, die zu Sowjetzeiten in tiefem Alt patriotische
Lieder gesungen und nun nach einem Dutzend plastischer Operationen beschlossen hatte, auf die Bühne zurückzukehren. Drei Doppelseiten
nahmen das Interview mit dem jungen Paar und die Fotoreportage über seine Hochzeit ein. Die Sängerin, bereits deutlich jenseits
der Wechseljahre, informierte den Reporter verschämt über ihre Schwangerschaft. Wozu? Wie wollte sie sich hinterher da rauswinden?
Sich ein Baby kaufen oder leihen?
Diese Welt des perfekten, falschen Lächelns, der Silikonbrüste, der entblößten Rücken, der endlos neu gefärbten Haare, des
alles zerfressenden Zynismus – sie war Angelas Leben und ihre Freiheit nicht wert. Sie war ihren kleinen Finger nicht wert,
diese grässliche Welt. Sie hatte Angela so leicht, so gnadenlos vergessen, ausgespuckt wie einen Pflaumenkern. Während sie
die Fotos in den Zeitschriften betrachtete, sah sie ihren eigenen schmalen, traurigen Schatten hinter den fröhlichen Bekannten,
hasste diese qualvoll und wünschte sich nichts so sehr, wie zu ihnen zurückzukehren, nicht als Schatten, sondern als lebendiger,
unversehrter Star.
Es war schon nach Mitternacht. Mila war schlafen gegangen. Angela warf die letzte Zeitschrift beiseite und löschte das Licht.
Sie hätte sich gern zusammengerollt, aber sie durfte nur auf dem Rücken schlafen. Die Balkontür stand weit offen.
Ein seltsames Geräusch, monoton und wehmütig, zerriss die Stille auf dem Hof. Erst glaubte Angela, der Wind heule, doch dann
unterschied sie einzelne Worte. Eine einsame Frauenstimme verfluchte auf dem leeren Hof die ganze Welt und alle Menschen.
Nach einem lauten, durchdringenden Aufschrei mischte sich eine zweite Stimme ein, ruhig, erwachsen und vernünftig.
»Nun hör schon auf, du bist doch ein großes Mädchen, alles wird gut!«
»Nein!«, schluchzte die erste Stimme laut. »Ich hasse alle! Das ist doch kein Leben!«
Angela hielt es nicht mehr aus, stand auf und ging auf den Balkon. Auf dem Hof, im Lichtkegel einer Lampe, stand eine einsame,
lächerliche Gestalt. Es war Dunja, die Verrückte des
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