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Der falsche Engel

Der falsche Engel

Titel: Der falsche Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polina Daschkowa
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vier Jahren in die USA ausgereist.«
    »Warum habe ich mir das alles ausgedacht? Ich bin doch nicht verrückt. Ich habe doch irgendwo angerufen, mich mit jemandem
     getroffen? Oder nicht?«
    »Tja, wahrscheinlich haben Sie sich mit einem Geist getroffen, wie Prinz Hamlet. Sie schwindeln überhaupt ganz gern, seit
     Ihrer Kindheit. Hören Sie, Major, wieso beißen Sie sich so an dieser albernen Geschichte fest? Wir sollten uns lieber über
     Schamil Ismailow Gedanken machen.«
    »Selbstverständlich.«
    »Schön, dass wir uns verstehen.« Raiski nickte kühl. »Noch Fragen?«
    »Den Geist des toten Königs hat nicht nur der Prinz gesehen. Es gab noch andere Zeugen. Und einen Mord. Der Geist hat nicht
     gelogen«, murmelte Sergej nachdenklich.
    »Entschuldigung – was?« Raiski löste sich von den Papieren, in die er sich vertieft hatte, um Sergej zu bedeuten, dass das
     Gespräch beendet war.
    »Irgendwohin bin ich doch gefahren und habe mich dort mit irgendwem getroffen«, sagte Sergej und stand auf. »Sie haben sich
     die Akte Michejew aus dem Archiv geholt?«
    »Ja, natürlich.«
    »Und eine Kopie gemacht?«
    Raiski stand auf, trat dicht vor Sergej und sagte, wobei er durchdringend auf seine Nasenwurzel starrte: »Was wollen Sie,
     Major? Sie haben eine ganz konkrete Aufgabe.«
    »Meine Aufgabe ist also nur Ismailow? Die Sicherheit von Stanislaw Gerassimow darf mich nicht kümmern?«, fragte Sergej kaum
     hörbar.
    »Das ist ein und dasselbe«, entgegnete Raiski ebenso leise.
    »Und wenn doch nicht?«
    Einige Sekunden lang blieb Raiskis Gesicht undurchdringlich. Seine Brillengläser funkelten, seine Lippen waren fest zusammengepresst.
     Der Oberst schwieg – er schien eine Entscheidung zu treffen. Schließlich ging er zurück an den Schreibtisch, ließ sich entspannt
     in den Sessel fallen, nahm die Brille ab und verzog die Lippen zu einem gelassenen, freundschaftlichen Lächeln.
    »Sie sind ein merkwürdiger Mensch, Major. Solche Dickköpfigkeit hätte ich von Ihnen nicht erwartet. Bitte sehr.« Er öffnete
     die Schublade, nahm eine dicke Mappe heraus und klatschte sie vor Sergej auf den Tisch. »Aber nicht zum Schaden unserer Hauptaufgabe!«
     
    Mein Gott, was ist bloß mit mir los, dachte Julia Tichorezkaja, während sie sich vorm Spiegel das nasse Haar föhnte.Was geht mich dieser Mann an? Warum belüge ich mich selbst und denke mir alle möglichen Vorwände aus, um mich noch einmal
     mit ihm zu treffen?
    In ihrem jetzigen Leben war alles genau eingeteilt, jede Minute geplant. Sie hatte weder Zeit noch Gelegenheit, sich zu verlieben.
     In wen auch? Die Auswahl wurde mit jedem Jahr geringer. Die Männer in ihrem Alter und älter waren verheiratet. Ein heimliches
     Verhältnis, verstohlen und perspektivlos, wollte sie nicht. Blieben die Junggesellen, doch die hatten meist ihre Macken und
     ließen sich in drei Kategorien unterteilen: Selbstverliebte Trottel, schüchterne Melancholiker und finstere Sammler sexueller
     Triumphe mit klagenden Augen und klebrigen Pfoten. Eines so öde wie das andere.
    Zuweilen überkamen Julia heftige Anfälle von Einsamkeit, sie merkte plötzlich, wie rasant die Zeit verging, und spürte den
     kalten Hauch des Alters im Nacken. Dann zwang sie sich, an die Arbeit zu denken, an ihre Patienten, an Schura.
    »Mama, was hast du mit dir angestellt?« Schura tauchte im Spiegel hinter Julia auf und starrte sie an, als sähe sie sie zum
     ersten Mal im Leben.
    »Nichts? Wieso?«
    »Du bist irgendwie anders. Ganz neu. Zehn Jahre jünger und hübscher.«
    »Das scheint dir nur so, wir sehen uns einfach in letzter Zeit selten, darum komme ich dir fremd vor.«
    »Nein, nein, Mama, ich kenne dich in- und auswendig, du hast dich wirklich verändert«, beharrte Schura. »Das fällt allen auf.
     Nicht nur mir.«
    »Wem denn noch?«
    »Vika. Sie hat gesagt, du flatterst neuerdings wie ein Vögelchen und lächelst die ganze Zeit. Was hat das zu bedeuten, Mama?«
    »Ach, hör auf.« Julia verzog das Gesicht. »Ich schlafe höchstens fünf Stunden am Tag, ich bin furchtbar müde und sehe grässlich
     aus. Schau dir nur meine Augenringe an, und meine Wangen sind ganz eingefallen. Damit ich nicht totenblass rumlaufe, lege
     ich Rouge auf. Und überhaupt, lass mich in Ruhe. Erzähl mir lieber, was in der Schule los war.«
    »In der Schule werd ich total genervt: Warum ich nicht erzählt hätte, dass meine Mutter die berühmte Angela operiert.«
    »Entschuldige – was?«
    »Ach, bist du endlich wach?

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