Der falsche Engel
Guten Morgen! Zwei Mädchen in meiner Klasse sind Angela-Fans. Die haben mich heute in der großen
Pause angebettelt, ob du nicht Angela-Poster mitnehmen und dir ein Autogramm geben lassen kannst. Ich hab die Dinger natürlich
nicht genommen, aber versprochen, mit dir zu reden. Ich konnte sie einfach nicht abwimmeln, Mama. Du hast keine Ahnung, was
die mich alles gefragt haben!«
»Was denn?«
»Na, zum Beispiel, ob es stimmt, dass Angelas Liebhaber sie aus Eifersucht verprügelt hat, der tschetschenische Terrorist
Schamil Ismailow. Ob es stimmt, dass er persönlich ihre Behandlung bezahlt. Sie haben behauptet, du hättest dich mit ihm getroffen
und er hätte dir einen Koffer voll Dollars gegeben, damit du Angela operierst. Außerdem soll ich dich fragen, wie Angelas
Gesicht nach der Operation aussehen wird, genau wie vorher oder anders. Na ja, blöde Tussis eben.«
»Moment.« Julia kniff die Augen zusammen und schüttelte den Kopf, um ein wenig zu sich zu kommen. »Mal schön der Reihe nach.
Woher haben sie den ganzen Quatsch – den tschetschenischen Terroristen, den Koffer mit Bargeld und all das?«
»Also, Mama, bist du von gestern?« Schura hob erstauntdie Brauen. »Aus der Klatschpresse natürlich. Übrigens hab ich Hunger.«
»Ja, natürlich, ich koche gleich was.«
»Mama, der Kühlschrank ist leer«, stöhnte Schura blasiert, »Vika ist doch wieder ausgezogen. Als sie hier gewohnt hat, gabs
immer was zu futtern. Vielleicht gehen wir irgendwo essen? Und feiern gleich deine Rückkehr von der Dienstreise und meine
fünf Punkte in der zentralen Englischarbeit. Das bedeutet übrigens mehr als eine gute Zensur. Das sind ein Paar Skechers.«
»Was für Skechers, Schura?«
»Na, die Schuhe, ich hab dir doch davon erzählt.«
»Hast du nicht gesagt, die sind schon wieder aus der Mode?«
»Mama, Grinders sind aus der Mode.« Schura runzelte tadelnd die Stirn. »Skechers sind gerade erst in Mode gekommen. Du hast
versprochen, wenn ich fünf Punkte kriege, gehen wir Skechers kaufen. Also komm, wir steigen ins Auto und fahren zum Rumstore.
Da können wir auch essen.«
Auf nichts hatte Julia jetzt weniger Lust als auf ein riesiges Einkaufszentrum. Sie konnte Läden nicht ausstehen, vor allem
wenn sie so groß und voll waren. Meist bekam sie nach zwanzig Minuten Kopfschmerzen, nach vierzig Minuten taten ihr die Beine
weh. Aber Schura war unerbittlich.
Die Pubertät, diese verfluchte Pubertät, sagte sich Julia, während sie sich anzog und hin und wieder zu ihrer Tochter blickte,
die wie ein aufgezäumtes Pferd ungeduldig mit den Füßen scharrte und gegen ihren langen, dunkelblonden Pony blies.
»Mama, warum wirst du eigentlich nicht bewacht?«, fragte Schura, als sie vor ihrem Auto standen.
»Wozu?«
»Wenn dem Terroristen nun nicht gefällt, wie du seine berühmte Freundin operiert hast?«
»Hör auf.«
»Ich hör ja schon auf. Aber der schwarze Audi da, der stand früher nicht auf unserem Hof, und nun ist er jeden Tag hier, und
zwar nicht leer, sondern mit Leuten drin. Wetten, dass er uns folgen wird?«
»Wetten, dass nicht?«, knurrte Julia gereizt und ließ den Motor an, ohne auch nur in die Richtung zu schauen, in die ihre
Tochter zeigte.
»Ich verstehe nicht, warum du so wütend bist.« Schura zuckte mit der Schulter und war beleidigt.
Eine Weile fuhren sie schweigend. Julia schaltete Musik ein. Schura sang mechanisch mit den Barry-Sisters mit und verstummte
plötzlich mit offenem Mund, starrte wie hypnotisiert in den Rückspiegel und flüsterte: »Mama, du wirst lachen, aber der Audi
folgt uns wirklich.«
»Klar werd ich lachen. Die Turnschuhe reichen dir wohl noch nicht, du musst unbedingt unterwegs noch ein bisschen Krimi spielen,
damits spannender ist, ja? Oder hat dich das Gerede der Angela-Fans aus deiner Klasse so beeindruckt, dass du tatsächlich
glaubst, deine bescheidene Mama hätte von einem tschetschenischen Terroristen einen Koffer voll Dollars bekommen?«
»Mama, der Mann, der lange, dünne mit der Brille«, sagte Schura nachdenklich, wobei sie weiter in den Spiegel sah, »der neulich
Nacht bei uns zu Hause war, ihr habt in der Küche gesessen, und du hast gesagt, das hätte was mit deiner Arbeit zu tun, und
danach bist du weggefahren … War der vom FSB?«
»Wie kommst du darauf?«
»Mama, antworte mir bitte ehrlich, ohne Quatsch – ja oder nein?«
»Nein, Schura. Beruhige dich. Und damit du dir keinenBlödsinn einbildest, erzähle
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