Der falsche Freund
richtig durchatmen. »Sind das alle Ihre?«
Sobald ich die Frage ausgesprochen hatte, wurde mir klar, wie dumm sie war, weil das schon rein mathematisch gar nicht sein konnte.
»Nein«, antwortete sie und starrte mich mit milder Verachtung an. »Bloß das eine.« Dann fügte sie voller Stolz hinzu: »Dreimal die Woche kommen nachmittags nach der Schule noch drei größere. Damit verdiene ich recht gut. Ich bin bei der Stadt als Tagesmutter gemeldet.«
Zärtlich befreite sie den schreienden kleinen Jungen aus dem Hochstuhl und wischte ihm mit einer Ecke des Lätzchens über den Mund. »Jetzt aber still«, sagte sie. »Schhh!«
Sofort verstummte er, und sein immer noch verschmierter Mund verzog sich zu einem Lächeln, während er mit einer Hand in ihr dichtes dunkles Haar griff.
Nachdem sie den Kleinen auf ihrer ausladenden Hüfte platziert hatte, wo er sich an sie klammerte wie ein kleiner Koalabär, wandte sie sich wieder an mich: »Was ist nun mit Simon?«
Ich hatte mir nicht überlegt, wie ich anfangen sollte, deswegen kam meine erste Frage viel zu abrupt:
»Wann haben Sie ihn das letzte Mal gesehen?«
»Sind Sie von der Polizei?«
»Nein.«
»Sozialarbeiterin?«
»Nein, ich bin bloß …«
»Was gibt Ihnen dann das Recht, einfach so in mein Haus zu platzen, die Nase zu rümpfen, als würde es hier schlecht riechen, und mir solche Fragen zu stellen?«
»Entschuldigen Sie, ich wollte nicht … Ich mache mir nur Sorgen und wäre Ihnen wirklich dankbar, wenn Sie mir helfen könnten.«
»Hat er Sie sitzen lassen?«
»Was?« Einen schrecklichen Moment lang dachte ich, Brendan wäre mir sogar bei seiner Schwester zuvorgekommen und hätte ihr bereits seine Version der Geschichte erzählt.
»Warum würden Sie sonst zu mir gerannt kommen und mich um Hilfe bitten?« Sie ließ sich mit dem Jungen auf das Sofa sinken. Sofort kletterte das kleine Mädchen ebenfalls auf ihren Schoß und drückte ihr klebriges Gesicht in die Falten von Susans Hals, was diese aber gar nicht zu bemerken schien. Ohne die Kleine eines Blickes zu würdigen, griff sie nach der Fernbedienung und zappte ein paar Programme durch, ehe sie erklärte: »Ich habe ihn schon eine Ewigkeit nicht mehr gesehen.
Wir gehen getrennte Wege. Er hat sein eigenes Leben, und ich habe meines. Warum? Wieso interessiert Sie das?«
»Wie gesagt, ich bin eine Bekannte von Simon. Ich kenne ihn nun schon fast ein Jahr.« Ich ließ mich auf der Kante des Sofas nieder. »Ich fürchte, es geht ihm nicht besonders gut.«
»Sind Sie Ärztin?« Sie wischte den Lutscher beiseite, der ihr von dem kleinen Mädchen vor die Nase gehalten wurde, als würde sie nach einer lästigen Fliege schlagen.
»Nein.«
»Wenn er krank ist, soll er zum Arzt gehen. Was erwarten Sie von mir? Er ist schließlich erwachsen.«
»So habe ich es nicht gemeint. Ich wollte damit sagen … nun ja, er hat sich in letzter Zeit ziemlich seltsam verhalten und …«
»Oh, ich verstehe. Sie glauben, er ist krank im Kopf, habe ich Recht? Hmm?« Sie klang plötzlich genau wie Brendan.
»Ich bin nicht sicher. Deswegen wollte ich ja mit Ihnen sprechen.«
»Das können Sie sich sparen. Mit Si ist alles in Ordnung.«
Sie stand so plötzlich auf, dass die Kinder, die auf das weiche Sofa plumpsten, überrascht nach Luft schnappten. Für eine so dicke Frau war sie erstaunlich agil. »Für wen halten Sie sich eigentlich?«
»Ich wollte nicht …«
»Verschwinden Sie!«
»Ich wollte bloß helfen«, log ich.
Ihre Wut schien schlagartig verflogen. »Ich könnte eine Kippe gebrauchen«, erklärte sie, während sie eine Videokassette vom Couchtisch nahm und in den Recorder unter dem Fernseher schob. Zeichentrickfiguren begannen über den Bildschirm zu hasten. Nachdem sie den Ton wieder laut gedreht hatte, holte sie eine Keksdose aus dem Regal und fischte drei Schokobonbons heraus, die sie in drei gierige Hände drückte.
Ich folgte ihr in die Küche, wo sie sich mit einem Seufzer auf einen Stuhl plumpsen ließ, sich ein großes Glas Limonade einschenkte und eine Zigarette anzündete.
»Ist er in Schwierigkeiten?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete ich vorsichtig. Je vager und zweideutiger ich blieb, desto weniger brauchte ich sie anzulügen. »Mir geht es eher darum, eventuellen Schwierigkeiten vorzubeugen, wenn Sie verstehen, was ich meine.
Deswegen bin ich auf die Idee gekommen, Sie aufzusuchen und mal mit jemandem zu reden, der ihn schon kannte, bevor er ins Heim musste.«
»Was?«
»Ich
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