Der falsche Freund
Tee zu sprechen. Frustriert machte ich mich daran, das Foto wieder an die Wand zu kleben, aber es hielt nicht mehr, sodass ich es einfach an die Wand lehnte. Dann schlich ich auf Zehenspitzen aus dem Zimmer und kehrte eilig nach unten zurück. Die Frau, die vorhin den Gang geputzt hatte, war verschwunden. Ich entdeckte sie in einem Raum hinter dem Empfang, wo sie gerade kochendes Wasser aus einem Kessel in eine große Tasse schüttete.
»Ich habe Mrs. Rees gefunden«, erklärte ich.
»Ja?«
»Ich muss mit ihrer Tochter Susan sprechen.«
»Mit ihrer Enkelin, meinen Sie.«
»Ja, natürlich. Ich habe etwas Wichtiges für sie. Könnten Sie mir ihre Adresse geben?«
Die Frau starrte mich mit halb geöffnetem Mund an. Ich war nicht sicher, ob sie mich verstanden hatte, aber sie begann bereits mit ihren rissigen Fingern einen Karteikasten durchzugehen.
33. KAPITEL
Susan Lyle wohnte am Ostrand der Stadt, in der Nähe eines Friedhofs. Die Adresse lautete 33 Primrose Crescent. Nummer 33 gehörte zu einer Reihe von beigen und grauen Häusern. Die Vorhänge waren zugezogen, die rote Farbe der Haustür blätterte ab, und als ich läutete, ertönte eine kurze, ziemlich falsch klingende Melodie aus »How Much is that Doggie in the Window?«.
Ich hatte nicht lange darüber nachgedacht, was ich da eigentlich tat, und außerdem angenommen, dass Susan Lyle ohnehin nicht zu Hause sein würde, sodass es mich ziemlich überraschte, als schon nach wenigen Sekunden die Tür aufging und eine Frau vor mir stand, die den ganzen Eingang ausfüllte.
Einen Moment lang war ich völlig geschockt über so viel Masse.
Sie trug blaue Leggings, in denen ihr riesiger Bauch ausgesprochen unförmig aussah, und dazu ein weißes T-Shirt, auf dem in kühnem Pink die Aufschrift prangte: »Do Not Touch!« Das Shirt spannte über ihrer üppigen Brust. Ihr Hals war dick, ihr Kinn legte sich in Falten, an ihren Handrücken bildete das Fett Grübchen. Ich spürte, wie ich rot wurde, und empfand dabei fast so etwas wie Scham. Krampfhaft bemüht, nirgendwo anders hinzusehen als in ihre Augen, die in ihrem breiten weißen Gesicht viel zu klein wirkten, versuchte ich mich auf den Menschen unter dem Berg aus Fett zu konzentrieren.
Auf dem Foto ihrer Großmutter hatte sie mager und x-beinig ausgesehen. Was war ihr im Leben widerfahren, dass sie sich so entwickelt hatte?
»Ja?«
»Susan Lyle?«
»Ja.«
Im Hintergrund heulte ein Kind.
»Sie müssen entschuldigen, dass ich Sie einfach so überfalle.
Könnte ich vielleicht kurz mit Ihnen reden?«
»Worum geht es? Sind Sie von der Stadt? Das Jugendamt hat sich die Wohnung doch schon angesehen.«
»Nein, nein, ich bin nicht von der Stadt, nichts dergleichen.
Ich bin … mein Name ist Miranda, und ich kenne Ihren Bruder.«
»Simon?« Sie runzelte die Stirn. »Sie kennen Simon?«
»Ja. Vielleicht könnte ich für einen Moment …«
Ich trat einen kleinen Schritt vor, aber sie rührte sich nicht von der Stelle. In das Geheule, das im Hintergrund zu hören war, mischte sich eine zweite, schrillere Stimme.
»Sie kommen wohl doch besser herein, bevor sie sich gegenseitig umbringen«, sagte sie schließlich, und ich folgte ihr in die Diele, wo die Heizung auf Hochtouren lief, obwohl es draußen ziemlich mild war.
Im Wohnzimmer herrschte Dämmerlicht, weil die Vorhänge zugezogen waren, sodass ich eine Weile brauchte, bis ich sämtliche Kinder in dem stickigen, voll gestopften Raum lokalisiert hatte. Im Laufstall saß ganz friedlich ein Baby mit einem Schnuller im Mund, umgeben von einem Berg von Plüschtieren. Die Quelle des Geheuls war ein in einem Hochstuhl festgeschnallter kleiner Junge. Sein Lätzchen war mit etwas Pflaumenfarbenem verschmiert, und auf dem Boden lag eine umgekippte Schüssel. Auf dem Sofa saß ein kleines Mädchen. Sie hielt einen Lutscher umklammert und starrte auf den Fernsehschirm, wo eine Spielshow ohne Ton lief. Als ich einen Blick in die Babytragetasche warf, die auf dem Boden stand, entdeckte ich darin ein weiteres Baby, das trotz des Lärms fest schlief. Es hatte die Hände vor sich ausgestreckt, als würde es sich an einem unsichtbaren Gegenstand festhalten, und seine Augenlider zuckten. Wovon Babys wohl träumten?
»So viele Kinder«, sagte ich munter. Aus einem künstlichen Kamin mit Schutzgitter strömte extrem heiße Luft, und ein Geruch nach Windeln und Raumspray stieg mir in die Nase.
Schlagartig empfand ich ein Gefühl von Beklemmung, als könnte ich nicht mehr
Weitere Kostenlose Bücher