Der falsche Freund
glaube, du brauchst mal eine Auszeit.«
»Nicht nötig, es geht mir gut«, gab ich gereizt zurück.
»Ich versuche doch bloß, dir zu helfen. Wir machen uns alle ein bisschen Sorgen um dich.« Zornig ballte ich die Fäuste. Es fiel mir schwer, ruhig zu bleiben.
Ich hatte bereits den Mund geöffnet, um nein zu sagen, als ich mir plötzlich dachte, warum eigentlich nicht? Warum nicht für ein paar Tage entfliehen? Lange Nächte, heiße Bäder, Straßencafés, Zimmerservice, neue Eindrücke, neue Gesichter, die fremden Laute einer anderen Sprache im Ohr, Sonne auf der Haut, Austern, Karaffen voller Wein. Und wenn ich wieder zurückkam, vielleicht kein Brendan mehr. Kein Brendan, der mit offenem Bademantel am Tisch saß, wenn ich morgens schlaftrunken in die Küche stolperte, und gerade genüsslich auf meiner letzten Scheibe Brot herumkaute. Kein Brendan, der mich »Mirrie« nannte oder mir widerliches Zeug ins Ohr flüsterte. Obwohl er sich erst seit etwa vierundzwanzig Stunden in meiner Wohnung aufhielt, hatte ich bereits das Gefühl, kaum noch Luft zu bekommen. Gerade hatte ich ihn losgeschickt, Toilettenpapier zu besorgen, und während der paar Minuten, die er weg war, kam es mir vor, als wäre ein Felsbrocken von meiner Brust gewälzt worden.
»Also gut«, sagte ich. »Nur für zwei oder drei Tage.
Schließlich muss ich es ja wirklich mal ausnutzen, dass ich eine Reisebürokauffrau als Schwester habe.«
»Gut. Das ist genau das, was du jetzt brauchst, und ich bin sicher, dass du dich hinterher viel besser fühlen wirst.«
»Ich könnte wirklich ein paar Tage Urlaub vertragen«, stellte ich fest. Damit hatte das Kind auch schon einen Namen: Miranda hat sich überarbeitet. Ich begann rasch zu rechnen: Wenn ich morgen Abend oder übermorgen abreiste und den Rest der Woche blieb, würden sie vielleicht wirklich schon weg sein, wenn ich zurückkam. Kerry zufolge schien mit ihrem Hauskauf alles glatt zu laufen.
»Wo möchtest du denn hin? Wenn es nur für ein paar Tage ist, sollte es natürlich nicht zu weit sein.« Sie stand auf und holte ihre Aktentasche hinter dem Sofa hervor.
»Schau, die hier habe ich einfach mal mitgebracht, nur für den Fall … Wir bieten so genannte Miniurlaube an, und um diese Jahreszeit lässt sich da immer etwas finden – du bekommst es über mich zu einem Viertel des Preises.« Sie breitete eine ganze Reihe von Prospekten auf dem Tisch aus. »Wie wär’s mit Prag?
Oder Madrid? Hier hätten wir ein paar Tage in der Normandie, direkt am Meer. Wobei das um diese Jahreszeit schon ein bisschen kalt sein könnte. Wenn ich du wäre, würde ich lieber Richtung Süden reisen.«
»Italien.« Ich griff nach einem Prospekt und schlug ihn auf.
»Rom?«
»Rom kenne ich schon. Ich möchte irgendwohin, wo ich noch nie war.«
»Da hätten wir Florenz, Venedig, Siena oder Neapel. Jeweils vier Tage. Oder sieh dir das hier an, ein wirklich schönes Hotel auf Sizilien, auf einem Felsen mit Blick aufs Meer.«
Ich sah mir die schönen Hochglanzbilder an. Kirchen in Grau und Rosa, Kanäle mit Gondeln, Hotelzimmer mit großen Betten.
»Moment«, sagte ich. Ich griff nach dem Telefon und wählte.
»Nick, hier ist Miranda … ja … ja, ich fühle mich schon viel besser, danke. Tut mir wirklich Leid, ich weiß auch nicht, was in mich gefahren ist, wahrscheinlich bin ich einfach überarbeitet …
Hör zu …«
Es regnete. Es regnete bereits, als wir am Flughafen auf das Vaporetto warteten, das uns in die Stadt bringen sollte. Der Himmel war stahlgrau. Der Regen fiel so heftig, dass es aussah, als würden sich Pfeile in die Straße bohren und das Wasser hochspritzen lassen. Innerhalb kürzester Zeit waren wir völlig durchnässt. Es regnete während der ganzen Überfahrt, und als wir die Stadt erblickten, erschien sie uns grau und verschwommen – wie eine Geisterstadt erhob sie sich aus dem Wasser. Von unserer Haltestelle bis zum Hotel waren es fünf Minuten zu gehen. Wir schleppten unsere Taschen, in denen sich statt wasserdichter Kleidung nur leichte Sachen befanden, einen schmalen Kanal entlang, an dem die Boote alle auf der Seite vertäut und mit Planen abgedeckt waren.
Es regnete jeden Tag. Wir trieben uns hauptsächlich in Kirchen und Kunstgalerien herum, und dazwischen suchten wir Zuflucht in kleinen Cafés, wo wir Espresso oder heiße Schokolade tranken. Ich hatte von langen, gemächlichen Spaziergängen durch das Labyrinth der Kanäle geträumt, von romantischem Verweilen auf Brücken,
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