Der falsche Freund
daran zu denken, sodass ich mich jetzt zwingen musste, mich der verdrängten Erinnerung zu stellen. Das mit Kerry und Michael dauerte nicht sehr lange, und schon nach ein paar Tagen war klar, dass sie sich mehr verliebt hatte als er. Zumindest war ich damals dieser Meinung, und später dann erst recht. Anfangs hatte er keine Notiz von mir genommen. Ich war vier oder fünf Jahre jünger als er und noch Jungfrau. Ich glaube nicht, dass ich so richtig mit ihm geflirtet habe, aber ich erinnere mich an den Blick, mit dem er mich eines Tages musterte – es war ein plötzlicher, abschätzender Blick, direkt über Kerrys Kopf hinweg, und noch heute erinnere ich mich ganz genau an das triumphierende Gefühl, von dem ich schlagartig durchdrungen war. Gleichzeitig empfand ich einen heftigen Abscheu vor mir selbst. Ab diesem Zeitpunkt musste ich ständig an ihn denken, nur weil er mich so angesehen hatte – in aller Öffentlichkeit, aber zugleich sehr intim. Ich glühte vor geheimer, schuldbewusster Lust.
Irgendwann gab er mir vor Kerrys Schlafzimmer einen hastigen Kuss. Ich ließ ihn gewähren, redete mir ein, dass es nichts bedeutete. Ein Kuss zählte nicht, ich hatte nichts Schlimmes getan. Eines Nachmittags hatten wir dann Sex auf meinem Bett, während Kerry rasch zum Kiosk um die Ecke ging, um Zigaretten für ihn zu holen. Das Ganze dauerte zwei schmerzhafte, schreckliche Minuten, und noch bevor wir richtig angefangen hatten, wurde mir bewusst, dass ich dabei war, den schlimmsten Fehler meines Lebens zu begehen. Danach konnte ich den Anblick seiner oberflächlichen, selbstzufriedenen Miene einfach nicht mehr ertragen und vermied jedes weitere Zusammentreffen mit ihm. Bevor er kam, verließ ich das Haus, und wenn das Telefon klingelte, ging ich nicht mehr ran. Ich wartete darauf, dass die Welle der Scham, die mich überflutet hatte, langsam wieder abebben würde. Er und Kerry waren nur noch kurze Zeit zusammen. Er rief immer seltener an und reagierte auch nicht mehr auf ihre Anrufe. Etwa eine Woche später, nachdem er wieder nach Hull zurückgekehrt war, begann Kerry mit ihrem Studium. Ich war sicher, dass er sie sowieso verlassen hätte. Ich versuchte Entschuldigungen zu finden, die mein Verhalten rechtfertigten, damit ich mich nicht mehr so schlecht zu fühlen brauchte, aber irgendwie gelang es mir nie so recht. Ich weiß nicht, ob Kerry ihm sehr nachtrauerte, ich wollte es auch gar nicht wissen. Ich konnte damals selbst kaum glauben, was passiert war. Und das ging mir noch heute so. Ich hatte es nie jemandem anvertraut. Außer meinem Tagebuch. Es aufzuschreiben war fast so eine Art Therapie gewesen, eine Möglichkeit, es aus meinem Kopf herauszubekommen und in einen Gegenstand zu verwandeln, den ich wegwerfen oder zumindest verstecken konnte. Aber letztendlich brachte ich es nie fertig, mein Tagebuch wegzuwerfen. Das wäre gewesen, als würde ich ein Stück von mir selbst wegwerfen.
Die entscheidende Frage war nun, ob ich damals nur deswegen mit ihm geschlafen hatte, weil er mit meiner älteren Schwester zusammen war. Ich erreichte einen Zaunübertritt und ließ mich darauf nieder. Spürte durch meine Kleidung die Feuchtigkeit des Holzes, spürte die Nässe des Bodens unter meinen dünnen Sohlen. Ich legte den Kopf in meine kalten Hände, presste die Daumen gegen die Ohren, um mich besser in mein Inneres versenken zu können. Denn falls dem tatsächlich so war, was sagte das über meinen Charakter aus? Welch seltsame, hässliche Replik des damaligen Geschehens lief da ab, diesmal aber für alle sichtbar und von allen mitverfolgt? Im Geist hörte ich wieder die gezischten Anweisungen meiner Mutter, die flehenden Worte Troys. Ich sah, wie sie mich alle anstarrten.
Kerrys bleiches Gesicht. Brendans Lächeln.
Eine noch brennendere Frage war, wie es jetzt weitergehen sollte. Ich schlug die Augen auf und erhob mich.
Inzwischen war es dunkel, der mondlose Himmel von Wolken verhüllt. Hier stand ich nun, auf einer abgelegenen Straße, umgeben von Wiesen und Wäldern, und hatte keine Ahnung, was ich als Nächstes tun sollte. Ein Teil von mir wollte einfach nur weglaufen und sich um nichts mehr kümmern müssen. Aber selbst zum Weglaufen brauchte man ein Ziel, man musste entscheiden, auf welcher Straße man in welche Stadt gelangen, wo man essen und in welchem Bett man schlafen wollte …
Am Ende ging ich einfach zu meinem Wagen und fuhr dieselbe Strecke zurück, die ich gekommen war. Ich fror so, dass meine schlecht
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