Der falsche Freund
Sekunden, Minuten und Stunden, die so gleichmäßig dahinticken. Ich dachte immer, wir würden zusammen alt werden, ich könnte ihm helfen. Ich hätte ihm mehr helfen sollen, meinem lieben kleinen Bruder.«
Mittlerweile hatte ich richtig zu weinen begonnen und konnte die Worte nur noch schluchzend hervorstoßen.
»Tut mir Leid«, sagte ich. »Aber das erscheint mir alles so ungerecht.«
»Ungerecht Ihnen gegenüber?«
»Nein. Nein! Ich bin schließlich nicht tot, oder? Ich gehöre zu den Glückspilzen. Nein, ungerecht ihnen gegenüber, meine ich.«
Ich redete weiter, aus mir quoll ein wüstes Durcheinander aus Erinnerungen und Gefühlen. Troy, Brendan, Laura, Kerry, meine Eltern, Nick. Eine Leiche, die von einem Balken baumelte, Anrufe mitten in der Nacht, geflüsterte Worte, die wie Gift in mein Ohr tröpfelten, abgesagte Hochzeiten, Beerdigungen, erst seine, dann ihre … Hin und wieder hielt ich inne und weinte in den feuchten Berg aus Taschentüchern hinein, den ich inzwischen in der Hand hielt. Meine Wangen brannten, meine Nase lief, meine Augen fühlten sich verschwollen an.
»Ich bin wie ein Typhusvirus«, erklärte ich irgendwann.
»Wie einer der spanischen Soldaten, die den amerikanischen Indianern Seuchen brachten, ihre neue Welt vergifteten, ich bin wie …«
»Wie meinen Sie das, Miranda?«, unterbrach Katherine Dowlings ruhige Stimme meine Tirade.
»Ich bin die Überträgerin«, stieß ich hervor. »Sehen Sie das denn nicht? Es ging ihnen allen einigermaßen gut. Ich habe ihn in meine Welt gelassen, das ist mein Problem, und damit musste ich selbst fertig werden. Aber es war zugleich auch ihre Welt, und er hat sie infiziert, sie zerstört, ihr Leben ruiniert. Ich lebe noch. Sehen Sie mich an. Hier sitze ich mit einer Therapeutin und arbeite daran, einen Weg zu finden, um mich wieder besser zu fühlen. Verstehen Sie, genau das ist das Problem.«
»Hören Sie mir zu, Miranda«, sagte sie. »Hören Sie mir jetzt mal gut zu.«
»Nein«, antwortete ich. »Warten Sie. Ich muss das erst mal klären, für mich selbst und für alle anderen. Es ist doch so: Auf dieser Welt gibt es schlimme Dinge, nicht wahr? Ich fühle mich deswegen furchtbar schlecht. Ihre Aufgabe als Therapeutin ist es, mich dahin zu bringen, dass ich mich nicht mehr so schlecht fühle. Aber vielleicht sollte ich lieber versuchen, etwas gegen die schrecklichen Dinge auf dieser Welt zu unternehmen.«
»Nein«, entgegnete sie.
»Das Ganze hat etwas Narzisstisches. Ich gebrauche jetzt einfach diesen Ausdruck, auch wenn er vielleicht nicht ganz passt. Ich meine, mal angenommen, zu Ihnen kommen Leute, die an Depressionen leiden, weil sie die Armut und die Ungerechtigkeit und das ganze Leid auf dieser Welt nicht ertragen können, und Sie hätten eine Pille, nach deren Einnahme die Leute aufhören würden, sich um den Zustand der Welt zu sorgen. Würden Sie sie ihnen geben? Würden Sie als Therapeutin diese Pille herausgeben, die die Menschen dazu bringt, das Unrecht auf dieser Welt gleichgültig hinzunehmen, statt hinauszugehen und etwas dagegen zu tun?«
Katherine Dowling schwieg eine ganze Weile. Wahrscheinlich bereute sie bereits, worauf sie sich da eingelassen hatte. Ich putzte mir die Nase und setzte mich aufrechter hin.
»Was Sie gerade durchmachen«, sagte sie und deutete mit dem Finger auf mich, »nennt man Trauer. Hören Sie mich?«
»Er hat mich sogar zu seinem gottverdammten Alibi gemacht«, murmelte ich. »Mein Gott, wie muss er gelacht haben!«
»Jetzt hören Sie mir mal zu!«, sagte sie bestimmt. Ich lehnte mich zurück. »Oft helfe ich den Leuten, die zu mir kommen, Muster zu finden, Ordnung ins Chaos zu bringen, ihr Leben als eine Art Geschichte zu sehen, damit sie es besser verstehen können. Zu Ihnen hingegen werde ich jetzt so ziemlich das Gegenteil sagen: Sie schaffen ein Muster, das gar nicht existiert.
Ihnen erscheint es wichtig, eine Bedeutung zu finden, eine Erklärung, mit der sich alles auf einen Nenner bringen lässt. Sie suchen nach Verantwortlichen, weisen sich selbst und anderen die Schuld zu. Miranda, Sie haben in den letzten Monaten zwei geliebte Menschen verloren. Und Sie haben eine schmerzhafte und beunruhigende Phase mit einem Mann durchgemacht, diesem Brendan. Und weil diese Dinge gleichzeitig passiert sind, bringen Sie sie miteinander in Verbindung, als wäre das eine die Ursache für das andere. Verstehen Sie, was ich meine?«
»Und wie ich sie miteinander in Verbindung bringe!«
»Mein
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