Der falsche Freund
Bluse. Zum ersten Mal seit Troys Tod legte ich seine Uhr an, ohne dass mir dabei die Tränen in die Augen stiegen. Ich bereitete mir eine Tasse Pfefferminztee zu und brach ein Stück Brot von dem Laib. Ich aß es einfach so, kaute langsam und bewusst. Anschließend putzte ich die Wohnung, verstaute alte Zeitungen und Zeitschriften in einer Schachtel und öffnete die Fenster, um den schönen Tag hereinzulassen.
Bevor ich es mir anders überlegen konnte, zog ich eine Jacke an und ging zur U-Bahn.
Kerry saß bereits hinter ihrem Schreibtisch, als ich das Reisebüro betrat. Sie war gerade mit einer Kundin beschäftigt, die Prospekte durchblätterte und ihr dabei ständig Fragen stellte, sodass sie mich nicht gleich entdeckte. Als sie schließlich aufblickte, spiegelten sich auf ihrem Gesicht in rascher Abfolge verschiedene Emotionen wider: Überraschung, Unbehagen, Schmerz, Freude. Das alles dauerte nur wenige Sekunden, dann richtete sie ihre Aufmerksamkeit erneut auf ihre Kundin. Ihre Miene glättete sich wieder zu geschäftsmäßiger Freundlichkeit.
Ich beobachtete sie, wie sie sich über den Tisch beugte und mit einem Finger, dessen Nagel zartrosa lackiert war, auf verschiedene Bilder deutete. Sie sah viel besser aus, als ich erwartet hatte. Ihr Gesicht wirkte rosig und wieder ein wenig voller, nicht mehr so verhärmt und fleckig, wie ich es in Erinnerung gehabt hatte. Sie ließ sich auch die Haare, die in Wellen um ihr zartes Gesicht fielen, wieder wachsen.
»Hättest du Lust auf eine Tasse Kaffee?«, fragte ich sie, nachdem die Frau mit einem Stapel Prospekte abgezogen war und ich ihren Platz eingenommen hatte. Ich roch Kerrys Parfüm, einen feinen, süßen Duft. Ihre Haut schimmerte seidig, ihre Lippen glänzten, und an ihren Ohrläppchen funkelten kleine Goldstecker. Alles an ihr wirkte stilvoll, zart und gepflegt. Ich warf einen Blick auf meine nicht ganz sauberen, abgekauten Fingernägel und merkte bei der Gelegenheit, dass die Manschetten meiner Bluse schon ein wenig ausgefranst waren.
Kerry zögerte, warf einen Blick auf die Uhr. »Ich weiß nicht, ob das jetzt möglich ist.«
»Gehen Sie ruhig!«, rief eine Frau am Schreibtisch neben ihr.
»Bald herrscht hier wieder Hochbetrieb, dann haben Sie keine Zeit mehr.«
Sie sah mich an und nickte.
»Ich hol schnell meinen Mantel.«
Wir gingen in das nächste Café, ein Stück die Straße entlang.
Auf dem Weg dorthin sprachen wir kein Wort. Nachdem wir uns im unteren Stockwerk niedergelassen hatten, das gemütlich mit Sofas und Sesseln eingerichtet war, sahen wir uns über den Rand unserer Kaffeetassen unsicher an. Ich machte eine Bemerkung über ihre neue Mietwohnung, worauf sie sagte, sie sei jede freie Minute damit beschäftigt, sich dort wohnlich einzurichten. Dann herrschte wieder peinliches Schweigen.
»Tut mir Leid, dass ich mich so lange nicht gemeldet habe«, sagte ich schließlich.
»Du hattest sicher viel zu tun.«
Ich wischte ihre freundlichen Worte beiseite.
»Das war nicht der Grund.«
»Nein, wahrscheinlich nicht.«
»ich wusste einfach nicht, wo ich anfangen sollte.«
»Miranda …«
»Kurz nachdem er, du weißt schon … kurz nachdem Brendan dich verlassen hatte, hast du zu mir gesagt, nun sei alles ruiniert, nun habe er die letzten paar Steine umgestoßen. Irgendwas in der Art.«
»Daran kann ich mich nicht mehr erinnern.« Sie stellte ihre Tasse ab.
»Natürlich nicht. Wieso auch? Ich habe keine Ahnung, warum es mir so im Gedächtnis haften geblieben ist, vielleicht wegen meines Berufs – jedenfalls sah ich ihn vor meinem geistigen Auge alles dem Erdboden gleichmachen, bis wir alle vor den Ruinen unseres Lebens standen. Genau das hat er uns angetan.«
»Du solltest nicht so viel über ihn nachdenken, Miranda«, sagte sie. »Du solltest ihn loslassen.«
»Was?« Ich starrte sie an.
»Ich habe ihn längst losgelassen«, fuhr sie fort. »Er ist kein Teil meines Lebens mehr. Ich möchte nie wieder einen Gedanken an ihn verschwenden.«
Ich war verblüfft über ihre Worte.
»Aber alles, was passiert ist …«, stammelte ich. »Mit dir und mir. Der ganzen Familie. Mit Troy.«
»Das hat nichts damit zu tun.«
»Und Laura.«
»Glaubst du, das mit Laura hat mich kalt gelassen?«
»Nein, natürlich nicht.«
»Glaubst du, ich habe eine Spur Schadenfreude empfunden, als ich davon hörte? Weil das Schicksal auf diese Weise Rache an den beiden genommen hatte?«
»Nein«, wiederholte ich. »Natürlich nicht.«
»Habe ich aber.
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