Der falsche Freund
lauschte: Sie waren bestimmt zu Hause. Mittlerweile schienen sie gar nichts mehr zu unternehmen. Sie gingen in die Arbeit, und hinterher saß meine Mutter im Haus und sah fern, während mein Vater draußen im Garten Vogelkästen an die Obstbäume nagelte oder stundenlang Unkraut aus den Rabatten zupfte.
Auf mein Klopfen kam keine Reaktion. Ich ging um das Haus herum und drückte die Nase an das Küchenfenster. Drinnen blitzte alles neu und ungewohnt. Arbeitsflächen aus Edelstahl, weiße Wände, Halogenstrahler an der Decke. Auf dem Tisch lag eine zusammengefaltete Zeitung, daneben standen Dads Lieblingstasse und ein Teller mit Orangenschalen. Alles schien seinen gewohnten Gang zu gehen, und doch hatte sich alles von Grund auf verändert.
Ich fischte den Schlüssel heraus, den ich immer noch besaß, und schloss die Hintertür auf. In der Küche fand ich eine Vase für meinen Strauß. Nachdem ich sie mit Wasser gefüllt und die Blumenstiele hineingezwängt hatte, stellte ich fest, dass mein Vater ein paar Orangenstücke auf dem Teller zurückgelassen hatte, und verspeiste sie, während ich gedankenverloren in den Garten hinausstarrte, in dem noch vor wenigen Monaten totales Chaos geherrscht hatte. Inzwischen war er neu bepflanzt und machte einen sehr gepflegten Eindruck. Plötzlich hörte ich Schritte auf der Treppe.
»Hallo?« Es war die Stimme meiner Mutter. »Ist da jemand?«, rief sie aus der Diele. »Wer ist da?«
»Mum? Ich bin’s.«
»Miranda?«
Meine Mutter war im Bademantel. Ihre Haare wirkten fettig, ihr Gesicht ein wenig verquollen, als hätte sie geschlafen.
»Bist du krank?«, fragte ich.
»Krank?« Sie fuhr sich übers Gesicht. »Nein. Bloß ein bisschen müde. Derek ist in die Stadt gefahren, um Gartenschnur zu besorgen, und da dachte ich mir, ich könnte vor dem Mittagessen noch ein kleines Nickerchen machen.«
»Ich wollte dich nicht aufwecken.«
»Das macht nichts.«
»Ich hab dir ein paar Blumen mitgebracht.«
»Danke.« Sie warf einen schnellen Blick auf den Strauß, ohne ihm wirklich Beachtung zu schenken.
»Soll ich uns Kaffee oder Tee machen?«, fragte ich.
»Das wäre schön.« Sie ließ sich auf der Kante eines der Stühle nieder.
»Und was?«
»Was?«
»Tee oder Kaffee?«
»Was dir lieber ist. Mir ist es egal.«
»Kaffee«, antwortete ich. »Und dann könnten wir einen Spaziergang machen.«
»Das geht nicht, Miranda. Ich muss … nun ja, ich muss einiges erledigen.«
»Mum …«
»Es tut so weh!«, brach es aus ihr heraus. »Nur wenn ich schlafe, tut es nicht weh.«
Ich nahm ihre Hand und drückte sie an mein Gesicht.
»Wenn ich nur irgendwas tun könnte«, sagte ich, »irgendwas, damit es dir besser geht.«
Sie zuckte mit den Achseln. Hinter uns begann der Kessel zu pfeifen.
»Es ist zu spät, um etwas zu tun«, erwiderte sie.
»Ich hab sie geliebt«, sagte Tony. Er war bereits bei seinem dritten Bier angelangt und begann etwas undeutlich zu sprechen.
Alles an ihm wirkte ein wenig vernachlässigt – seine eingefallenen Wangen waren stoppelig, seine Haare zu lang und leicht fettig, sein Hemd hatte vorn einen Kaffeefleck, und seine Nägel mussten dringend mal wieder geschnitten werden. »Ich habe sie geliebt«, wiederholte er.
»Ich weiß.«
»Was hab ich bloß falsch gemacht?«
»So kann man das nicht sehen«, entgegnete ich lahm.
»Ich hab es ihr vielleicht nicht oft genug gesagt, aber sie wusste es trotzdem.«
»Ich glaube …«, begann ich.
»Und dann«, fiel er mir ins Wort, hob sein Glas und leerte es.
»Und dann, als sie einfach so davonlief und mir nur einen Zettel auf dem Tisch hinterließ, habe ich ihr den Tod gewünscht, und sie ist gestorben.«
»Aber nicht, weil du es ihr gewünscht hast. Diese Verbindung besteht lediglich in deinem Kopf.«
»Dein gottverdammter Brendan. Er hat ihr den Kopf verdreht, ihr alles Mögliche versprochen.«
»Was denn?«
»Ach, du weißt schon – Romantik und Leidenschaft, die Ehe, Babys. All das, weswegen wir uns in den letzten paar Monaten immer gestritten hatten.«
»Aha«, sagte ich.
»Letztendlich wäre ich bestimmt einverstanden gewesen. Das hätte sie doch wissen müssen.«
Wortlos nahm ich einen Schluck von meinem Wein. Ich musste an Lauras Lachen denken, ihren zurückgeworfenen Kopf, ihre weißen, schimmernden Zähne, ihre dunklen, vor Lebensfreude funkelnden Augen.
»Und nun ist sie tot.«
»Ja.«
Am Sonntag lief ich wieder. Elf Kilometer durch leichten Nieselregen. Anschließend traf ich
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