Der falsche Graf
der Hand, als wollte er eine lästige Fliege verscheuchen. Der Studentenkellner eilte davon, kehrte aber bald darauf mit einer Flasche Wein und einem Glas zurück. Er schenkte den üblichen Probierschluck ein, der Bossanzug nippte an seinem Glas, schüttelte den Kopf und scheuchte den Kellner erneut mit einem Handwedeln davon.
"Arroganter Fazke", murmelte Tante Miene verärgert vor sich hin. Der Kerl hatte bestimmt nicht mehr Ahnung von Wein wie jeder Durchschnittsbürger, führte sich aber auf, als wäre er Witzigmann persönlich.
In Tantchens Augen verkörperte er den geborenen Heiratsschwindler. War er etwa hier, um sich ein lukratives Opfer zu suchen? Aber wieso heftete er sich dann an die Fersen des netten Pärchens? Wollte er etwa die beiden mit irgendeinem miesen Trick übers Ohr hauen? Ach, Miene, sei doch nicht immer so misstrauisch, schalt sie sich selbst, während sie in die Privatwohnung der von Kronbergs ging, um endlich ihre Blumen zu wässern. Bei dem Kerl handelt es sich vielleicht nur um einen dieser Angeber, von denen hier ab und zu mal welche auftauchen. Die tun für ein paar Tage so, als wären sie Graf Koks und würden im Geld schwimmen und dann zahlen sie für den Rest des Jahres den Kredit ab, mit dem sie den Urlaub bei uns finanziert hatten.
Diese und andere durchaus logische Argumente ließ Tante Miene sich durch den Kopf gehen, während sie die Rosen im Wohn- und Esszimmer verteilte. Aber das Gefühl, dass sich dunkle Wolken über dem Schlosshotel zusammenbrauten, wollte sie trotzdem nicht verlassen. Es verfolgte sie wie ein Schatten und beunruhigte sie zunehmend. Was stand dem Schloss und seinen Gästen bevor?
10. Kapitel
Lydia Pallmann blieb mit ausgestreckter Hand vor Kyrsti stehen. Ihr Gesicht verriet kalte Entschlossenheit.
"Ich will nicht!" Das junge Mädchen wollte die Hand wegstoßen, aber Lydia schloss blitzschnell ihre Finger um die Tabletten. "Ich will raus hier, hörst du? Ihr könnt mich nicht ewig einsperren."
"Es ist nur zu deinem Besten." Lydia blieb ruhig. "Außerdem sperren wir dich nicht ein, wir schützen dich vor der Öffentlichkeit. Du musst dich von der anstrengenden Tournee erholen."
"Von wegen!" Kyrsti sprang auf. "Ich bin euch doch ganz egal. Was euch interessiert ist das Geld, das ihr auf meine Kosten verdient. Hau ab, lass mich in Ruhe."
"Erst, wenn du deine Tabletten genommen hast", beharrte Lydia stoisch.
"Wieso muss ich Tabletten nehmen?", begehrte Kyrsti auf. "Und was ist das für ein Zeug, dass du in mich reinzustopfen versuchst? Speed?" Sie kicherte, einer Hysterie nahe. "Ecstasy? Oh, Lydi, du wirst doch wohl nicht auf deine alten Tage auf einen Dealer machen?"
Die Angesprochene verzog nicht eine Miene.
"Es sind Vitamine und Appetitzügler", antwortete sie vollkommen ungerührt. "Du hast zugenommen."
"Ich wiege fünfundvierzig Kilo!" Kyrsti hieb mit den Fäusten auf das Sofapolster. "Was ist da zu fett, he?"
"Die Kamera packt fünf Kilo drauf." Lydia ging zum Tisch, nahm die Karaffe und goss Wasser in ein Glas. "Schluck die Dinger endlich und dann ist es gut."
"Ich will aber essen!"
"Wenn du abgenommen hast." Lydia hielt ihr das Glas entgegen. "Du sollst Teenymode präsentieren, nicht Kittelschürzen für fette Hausfrauen. Also müssen mindestens drei Kilo runter."
Das junge Mädchen zog die Beine hoch, rollte sich zusammen und drückte sich in die Polster des Sofas zurück wie ein verängstigtes Kätzchen.
"Warum lasst ihr mich nicht wenigstens mit Gerry sprechen?", fragte sie mit dünner Stimme.
"Weil es unsere PR-Kampagne gefährdet." Ein Klopfen an der Tür lenkte Lydia kurz ab. Sie sah sich um, die feingezupften Brauen ärgerlich zusammengezogen. Ihre Züge entspannten sich als sie den hochgewachsenen, breitschultrigen Mann erkannte, der den Raum betrat.
"Wir sind gleich soweit", versicherte sie ihm eilig. "Unser Baby bockt heute nur ein bisschen. Aber sie wird schon artig werden. Nicht wahr, Kyrsti, du wirst jetzt mit dem Theater aufhören und brav sein. Sonst gibt es heute Abend überhaupt keinen Ausgang."
Kyrsti wischte sich über die Augen. Einen Moment sah sie zwischen den beiden Erwachsenen hin und her, dann griff sie nach dem Glas und den Tabletten und schluckte alles in einem Zuge hinunter.
"Na, also, es geht doch." Lydia lächelte zufrieden. "Und jetzt lässt du dich hübsch machen."
Mit müden Bewegungen stand Kyrsti auf. Barfüßig ging sie ins Nebenzimmer und warf mit Nachdruck die Tür hinter sich zu. Kaum war sie
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