Der falsche Mann
hatte einen Köder für die Zeugin ausgelegt.
» Wenn ich gesunden Menschenverstand und Berufserfahrung zur Spurenanalyse hinzuziehe«, antwortete die Ärztin, » dann bin ich nicht vollständig davon überzeugt, dass die Waffe aus einer Entfernung von drei Metern abgefeuert wurde.«
» Und warum nicht, Frau Doktor?«, fragte Shauna. Man stellte bei einem Kreuzverhör niemals ergebnisoffene Fragen, es sei denn, man war sich sicher, dass die Antwort den eigenen Zielen diente. Shauna hatte eine Vorstellung, wie die Ärztin antworten würde, aber sie konnte sich nicht sicher sein.
» Meiner Erfahrung nach«, erwiderte Dr. Agarwal, » sind die meisten Schüsse aus einer Glock-Handfeuerwaffe zu unpräzise, um jemanden aus drei Metern Entfernung direkt zwischen die Augen zu treffen. Es ist natürlich möglich, aber es ist schwierig.«
» Es müsste also ein sehr guter Schütze gewesen sein«, sagte Shauna. » Und er müsste viel Übung mit dieser Waffe gehabt haben?«
» Einspruch«, rief die Anklägerin Maggie Silver, doch war sie mit ihrem Einwand gegen diese Art Fragestellung ein wenig spät dran, was ihr der Richter auch mitteilte.
» Das würde ich annehmen, ja«, sagte die Ärztin, nachdem Shauna ihre Frage wiederholt hatte.
Wir wollten den Schützen so weit von dem Opfer entfernt wie möglich, um die bizarre Argumentation der Anklage zu verdeutlichen und um zu zeigen, dass man verdammt gut schießen können musste, um ein Opfer aus dieser Entfernung zwischen die Augen zu treffen. Die Anklage hatte natürlich eine Antwort darauf – First Lieutenant Tom Stoller war ein trainierter Schütze der Army Rangers –, aber dazu mussten sie seinen militärischen Hintergrund zur Sprache bringen. Und das wollten sie tunlichst vermeiden, besonders da wir einen pensionierten Colonel in der Jury untergebracht hatten.
Shauna verbrachte weitere zwanzig Minuten mit der Befragung der Rechtsmedizinerin, dann war erneut die Anklage am Zug. Wir hatten nur einen einzigen Punkt für uns verbuchen können, dafür hatte die Jury diverse schreckliche Nahaufnahmen des Mordopfers gesehen und anschauliche Schilderungen vom gewaltsamen Ende Kathy Rubinkowskis gehört. Unterm Strich war es eine weitere Zeugenaussage zugunsten des Staates gewesen.
Anklage gegen Verteidigung, 2:0.
73
Als ich gegen Ende des Tages meine Unterlagen zusammenpackte, entdeckte ich Tori im Gerichtssaal. Sie suchte meinen Blick und signalisierte mir, sie habe etwas Wichtiges für mich.
Doch zunächst musste ich mich um meine Mandanten kümmern: Tom und Tante Deidre. Tom hatte heute vor Gericht einen ziemlich gefassten Eindruck gemacht, sehr zu meinem Bedauern, denn die Jury sollte jemanden erleben, der eindeutig unter einer geistigen Störung litt. Doch stattdessen war Tom aus irgendeinen Grund relativ entspannt und ruhig geblieben.
Wir trafen uns in dem Verwahrraum, den man uns für unsere Nachbesprechungen zur Verfügung gestellt hatte. Ich berichtete ihnen, was wir bisher über Global Harvest herausgefunden hatten und von meiner Unterredung mit dem FBI am Vormittag. » Wir verfolgen diese Spur mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln«, sagte ich. » Wenn dort was zu finden ist, dann stoßen wir hoffentlich innerhalb der nächsten Tage darauf.«
Tom schien mir zuzuhören, erwiderte jedoch nichts. So wie ich ihn kannte, war er bereits mit seinem Abendessen im Bezirksgefängnis beschäftigt. Deidres Ausdruck konnte man bestenfalls als niedergeschlagen bezeichnen.
» Bitte denken Sie daran«, erklärte ich ihnen, » dies ist ein Indizienprozess. Die können weder beweisen, dass er am Tatort war, noch dass er die Waffe abgefeuert hat.«
» Richtig«, sagte Deidre. Sie hatte das schon öfter gehört, aber ganz offensichtlich hatte die Wiederholung eine tröstliche Wirkung auf sie. Wir verabschiedeten uns in der Lobby, wo Tori auf mich wartete. Wie üblich trug sie ihren langen weißen Mantel, allerdings stellten sich diesmal bei mir keine Fantasien ein, wie ich ihn ihr auszog.
Es war nicht der richtige Zeitpunkt, mit diesem Teil meiner Anatomie zu denken. Vielmehr brauchte ich mein Gehirn. » Na, was hast du für mich, Kleines?«, fragte ich sie, um dem Ganzen einen platonischen Anstrich zu geben. Es klang gezwungen. Es klang geradezu lächerlich.
» Kleines? Bin ich jetzt dein ›Kleines‹?«
» Dein neuer Spitzname.«
» Tja, also dann, Daddy-O.«
» Nett.«
Wir traten aus der Tür in die kalte Luft. Es fühlte sich gut an.
» Willst du jetzt
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