Der falsche Spiegel: Roman (German Edition)
mehr so, wie es einmal war. Lustige Balgereien im Sandkasten, heftige Schusswechsel in engen Gassen – für solche Albernheiten gibt es inzwischen vermutlich andere Spielfelder.
Das Labyrinth von heute gleicht eher einem militärischen Übungsplatz. Hier sind keine einsamen Helden gefragt, die ihre Reflexe perfektionieren und ihr Reaktionsvermögen trainieren. Nein, hier haben die Gruppenspiele Einzug gehalten. Die langen und langweiligen Märsche. Man hilft sich gegenseitig, scheidet die Schwachen aus, unterstützt die Starken, ordnet sich widerspruchslos den Befehlshabern unter …
Warum gefällt mir das nicht?
Weil ich bis ins Mark hinein ein Einzelgänger bin?
Oder weil ich damals, vor zwei Jahren, noch nicht genug gespielt, noch nicht all das erlebt habe, was ich erleben wollte?
So oder so, jetzt ist es zu spät, nach Antworten auf diese Fragen zu suchen. Die Welt hat sich verändert – und ich habe es nicht einmal bemerkt, denn ich habe mich in meinem kleinen, gemütlichen und sicheren Schneckenhaus verrammelt.
Ich verlasse den Säulensaal. Draußen ist es bereits dunkel, die Laternen brennen, die Leuchtreklamen schillern in bunten Farben, es sind mehr Menschen unterwegs … Alles ist so, wie es sein
soll, schließlich befinde ich mich im Vergnügungsviertel, und um diese Zeit strömen die meisten Menschen hierher. Im europäischen und russischen Teil von Deeptown machen jetzt alle Feierabend und begeben sich auf die Suche nach Abenteuern. Sollen sie – Hauptsache, mir bleibt mein lauer Sommerabend, Hauptsache, mir bleiben die ersten Sterne am dunkelblauen Himmel und der Geruch nach Regen, der vor Kurzem niedergegangen ist, erhalten.
Was wir vorhaben, ist dumm. Wir geben wahrlich ein paar schöne Helden ab – die genauso arrogant sind wie die Deutschen im Juni neunzehnhunderteinundvierzig.
Was haben wir bloß im Labyrinth des Todes verloren? Das ganze Unternehmen ist doch von vornherein zum Scheitern verurteilt!
Ich hätte meinen Instinkten vertrauen sollen, die mich nach der ersten Niederlage aus dem Labyrinth herausgetrieben haben.
Nur: Welche Alternativen gibt es? Sollen wir den Dark Diver suchen? Da würden wir eher eine Nadel im Heuhaufen finden. Außerdem würde er uns bestimmt nicht helfen.
Oder sollen wir uns zu Dmitri Dibenko, der hinter all diesem Chaos steckt, vorkämpfen? Aber wozu? Wenn einer weiß, welche Gefahr der Tiefe droht, dann er. Vor ein paar Jahren hat er sie aus der Taufe gehoben – nun kreiert er eben ihren Tod. Weshalb? Keine Ahnung, ich bin schließlich kein Psychiater. Für jedes Verhalten lässt sich eine edle und eine unedle Erklärung finden. Und welche er uns auftischen würde, spielt überhaupt keine Rolle. Denn auf sein neues Spielzeug würde er im einen wie im andern Fall nicht verzichten.
Was könnten wir sonst noch tun?
Sollen wir uns an die Redaktionen der virtuellen Zeitungen und Zeitschriften wenden? An den Boten der Tiefe zum Beispiel. Oder an Deeptown am Abend . Dort würde man uns zweifellos
höflich zuhören, uns Kaffee anbieten – und uns dann freundlich, aber bestimmt vor die Tür setzen. Die werden schließlich jeden Tag von irgendwelchen Psychos belästigt! Eines der russischen Boulevardblättchen, etwas wie die Buschtrommel aus Woronesh oder Flitter und Glitzer aus Lipezk, würde uns dagegen garantiert mit offenen Armen empfangen. Sie würden uns danken, uns die Hände drücken und eine Nummer mit einer fetten Schlagzeile herausbringen: WAFFE DER FÜNFTEN GENERATION TÖTET 27 HACKER!
An die Kraft dieses Aufmachers glaube ich nicht.
An die Dummheit, Frechheit und Ignoranz dieser Art Presse schon.
Für einen kurzen Moment bin ich so deprimiert, dass ich am liebsten mein altes Mantra flüstern würde, um die Tiefe auf der Stelle zu verlassen, selbst wenn mir das Kopfschmerzen beschert. Ich wollte nur noch irgendwas aus dem Kühlschrank in mich hineinstopfen und mich aufs Ohr hauen, immerhin ist es schon vier Uhr morgens.
Nur würde ich nicht schlafen können. Dafür pulsieren viel zu viele Hormone durch mein Blut. Wir hatten den Zeitpunkt verpasst, wo man sich noch schlafen legen kann, waren wachgeblieben und hatten bis zu einer hartnäckigen, schlaflosen Müdigkeit ausgehalten.
Ich hebe den Arm, um ein Taxi anzuhalten.
»Zur Bar Zum toten Hacker .«
Der Fahrer nickt, er kennt die Adresse also. Na, dann wollen wir uns doch mal ansehen, wo sich die coolsten Hacker von heute versammeln.
Die Fahrt dauert lange, anscheinend läuft die Kneipe
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