Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der falsche Spiegel: Roman (German Edition)

Der falsche Spiegel: Roman (German Edition)

Titel: Der falsche Spiegel: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Lukianenko
Vom Netzwerk:
an, wenn du sie verteidigst! Und schicke sie mir, damit ich eine positive Rezension schreibe!«
    »Und wenn sie dir nicht gefällt?«, wollte Vika wissen.
    »Wie soll mir deine Arbeit nicht gefallen?«, entgegnete Andrej erstaunt. »Ich weiß doch, welche Anforderungen du an dich selbst stellst! Was ist mit dir, Leonid?«
    »Ich arbeite bei einer großen Firma in Deeptown«, gab ich Auskunft. »Als Fachmann fürs Transportwesen.«
    Andrej nickte.
    »Ich bin Möbelpacker«, präzisierte ich.
    Nedossilow lächelte. Wahrscheinlich hielt er das für einen Slangausdruck.
    »Aber erzähl doch mal, Andrej. Was ist das für eine Sache mit den Divern?«, kam ich auf sein Thema zurück. »Gibt es sie nun oder nicht?«
    Der Psychologe hatte endlich eine bequeme Haltung auf dem Sofa gefunden. »Wenn du davon ausgehst, dass die Welt sich aus der Gesamtheit aller Vorstellungen einer Gesellschaft und der dominanten Subkulturen ihrer sozialen Mikromilieus zusammensetzt, dann existiert einfach absolut alles«, führte er aus. »Dann ist Koschtschei der Unsterbliche ebenso real wie die Hexe Baba Jaga – zumindest wenn du diese Figuren im Kontext ihrer konkreten historischen und kulturellen Umgebung betrachtest. Was ist die Mythologie denn eigentlich? Es ist die Aufladung der Welt mit unzulänglichen Komponenten, die sich im menschlichen Bewusstsein herausgebildet haben, aber über keine reale Grundlage in der Welt verfügen. Gehst du da mit mir konform?«
    »Glaub schon.«
    Vika sah auf die Uhr, stand auf und ging in die Küche. »Das Essen ist gleich fertig«, kündigte sie an.
    »Also …« Andrej schien auf Versatzstücke aus dem Vortrag zurückzugreifen, den er heute gehalten hatte. »Um einen effektiven, vitalen – ja, genau, einen vitalen – Mythos zu schaffen, sind folgende Umstände nötig. Erstens: Die Gesellschaft oder ein organisierter, stabiler Teil von ihr muss ein Bedürfnis nach ebendiesem Mythos haben. Ist dieser Faktor in der Anfangsphase der Erschaffung des virtuellen Raums gegeben gewesen? Selbstverständlich, schon allein aufgrund der unzulänglichen Soft- und Hardware. Die zahllosen Abstürze verlangten nach dem Mythos des Divers als Retter und Beschützer. Zweitens: Es müssen reale Erscheinungsformen auf das Agieren dieser mythologischen Figuren deuten. Zeus war für die alten Griechen real, weil alle seine Blitze sehen konnten.«
    »Das heißt also, jemand hat die Diver gesehen?«
    »Nicht die Diver!« Nedossilow drohte mir mit dem Finger. »Nein, es wurden Ereignisse beobachtet, die man Divern zuschreiben konnte. Ich spreche hier von den Situationen, in denen
ein normaler Mensch nicht allein aus dem virtuellen Raum auszutreten vermochte, bestimmte User aber doch dazu imstande waren. Wie sollte man das interpretieren? Die einzige Erklärung schien darin zu liegen, dass es besondere Menschen gibt, die ihr Bewusstsein vollständig unter Kontrolle haben und den Kontakt zur Realität nicht verlieren!«
    »Und welche Erklärung hast du dann für diese Fälle parat?«
    »Ach, Leonid!« Andrej lachte leise. »Das liegt doch auf der Hand! Ich weiß, dass du deine Zeit regelmäßig in der virtuellen Welt verbringst, in diesem Deeptown. Du bist mit dem Slang, der Kultur und den Mythen dieser Welt vertraut. Aber versuch doch einmal, all das für einen Moment zu vergessen und die Situation mit dem nüchternen Blick eines normalen, logisch denkenden Menschen zu betrachten.«
    »Keine einfache Aufgabe, aber ich will es versuchen.« Ich schenkte mir Wodka nach. Da aus der Küche Geschirrgeklappere herüberdrang, trank ich schnell aus und stellte das Glas auf den Tisch. Andrej tat so, als habe er nichts bemerkt.
    Vielleicht hatte er das aber auch tatsächlich nicht.
    »Zunächst habe ich einen falschen Weg eingeschlagen«, gab Nedossilow selbstkritisch zu. »Da habe ich nämlich angenommen, die jungen Leute hätten an ihrer virtuellen Kleidung spezielle Knöpfe angebracht, Austrittsknöpfe, wenn du so willst. Sobald sie im virtuellen Raum auf sie drückten, erhielt der Computer in der realen Welt den Befehl zum Austritt.«
    »Das würde nicht funktionieren«, wandte ich ein. »Du kannst dir tausend Knöpfe anzeichnen, an allen Körperteilen – nur glaubt dein Bewusstsein unter dem Einfluss des Deep-Programms nicht mehr daran, dass sie etwas bewirken. Denn die Tiefe ist eine verdammt süße Illusion. Süßer noch als Heroin. Du könntest ewig auf diesen Austrittsknopf drücken, aber du würdest keinen realen Befehl geben.

Weitere Kostenlose Bücher