Der falsche Spiegel: Roman (German Edition)
sich endlich eine neue Soundkarte verdient zu haben, dürfte dabei mindestens genauso groß sein wie unsere Neugier auf die Daten.
Schließlich schwillt das Kuvert nach und nach an. Es wird schwerer, Ilja lässt sogar die Hand leicht sinken. Auf sein Gesicht schleicht sich ein Lächeln, das so begeistert, ehrlich und offen ist, als hätte er einen dicken Brief von einem todkranken, millionenschweren Verwandten erhalten.
»Unterschreib jetzt!«
Das sollte nun wirklich kein Problem sein. Ich hinterlasse mein Autogramm auf dem Zustellungsbescheid – und nehme den Brief an mich.
»Also dann … ich muss hier irgendwo …«, setzt Ilja an, während er in seinen Taschen kramt. »Ich schulde dir fünfundzwanzig Dollar, oder? Die kannst du gleich …«
»O nein, dieser Leonid, da verdient er auch noch an dem Brief«, fährt Bastard mit theatralischem Flüstern dazwischen.
Diese Giftnatter.
»Vergiss es«, sage ich zu Ilja.
»Wie, vergessen? Wir haben doch abgemacht …« Ilja zieht ein paar zerknüllte Dollarscheine aus der Tasche.
»Okay«, sage ich schnell. Ich nehme das Geld an mich – und drücke es ihm wieder in die Hand. »Trinkgeld. Wie es sich gehört.«
Ilja schnauft, steckt das Trinkgeld aber weg. Er nickt in Richtung der anderen. »Zahlen die Diver so gut?«, fragt er neugierig.
Da geht mir endlich die Komik der Situation auf. Wie sollte Ilja mich auch für einen Diver halten? Mich, der ich ein ebenso unbescholtener Einwohner Deeptowns bin wie er, der ich früher Möbel geschleppt habe und nun ins gemachte Nest untergekrochen bin.
»Kann nicht klagen.« Ich schiele aus den Augenwinkeln zu den anderen hinüber. Der Magier und Bastard amüsieren sich königlich. Dschingis und Maniac scheinen vor Neugier beinah zu platzen und bringen deshalb nicht mal mehr ein Lächeln zustande. »Okay, Kumpel, danke …«
»Keine Ursache.« Ilja streckt mir die Hand entgegen, und wir verabschieden uns per Handschlag. »Du … lass dich mal wieder in der Kneipe blicken … zum Quatschen.«
»Mach ich.«
Ob ihn das alles wirklich nicht interessiert? Ob es ihn wirklich kaltlässt, mal mit Divern zu reden? Mit Ex-Divern, meine
ich natürlich. Und der Tempel? Aber gut, auf den ersten Blick macht er tatsächlich nicht viel her. Ein leerer runder Raum, eine Treppe …
Ich schließe die Tür hinter ihm und drehe mich zu den anderen um.
»Mach schon«, treibt mich Maniac an. »Ich glaube, es ist am besten, wenn du den Brief öffnest.«
Das Papier ist fest, ich muss sogar ein Eckchen mit den Zähnen aufreißen, bevor ich den Umschlag öffnen kann.
»Wo steckt eigentlich Pat?« Bastard späht plötzlich nervös die Treppe hoch.
»Er weiß, dass wir hier nicht auf einer Exkursion sind. Wenn er verpasst, wie wir den Brief lesen, ist er selbst schuld«, entgegnet Dschingis. »Komm schon, Leonid!«
Ich entnehme dem Umschlag ein dickes Büchlein, das fest in Plastikfolie eingeschweißt ist. Das ist der Schutz, der nicht zu knacken ist. Und hier, im Diver-in-der- Tiefe -Tempel, ist der Schlüssel eingebaut.
Ich pule am Rand der Folie. Zunächst geschieht gar nichts.
Doch schließlich reißt das Plastik knisternd ein und zerfällt in kleine Teile. Wie Konfetti. Der Schlüssel ist akzeptiert worden.
»Die Gesellschaft New boundaries«, lese ich vor. »Vorläufiger Bericht zum Projekt Sweet immersing. Nur für Angehörige des Aufsichtsrats.«
»Den Teil kannst du dir sparen!«, drängelt Dschingis.
Ich setze mich auf den Boden und öffne das Buch. Weißes Papier, schwarze Schrift. Trocken, offiziell, konservativ. Nichts zur Auflockerung, keine Animation, Soundeffekte oder Videoclips. Aber das ist ja auch keine Präsentation fürs Publikum, sondern Arbeitsmaterial …
»Hier gibt es eine Art Vorwort«, informiere ich die anderen mit einem Blick auf die erste Seite. »Das Deep-Programm,
die revolutionäre Entdeckung im Bereich der Psychotechnik, hat die Erschaffung einer neuen, einer virtuellen Welt ermöglicht, die wir Deeptown nennen. Die kühnsten Träume der Menschheit sind damit in Erfüllung gegangen. Es sind völlig neue Industrien der Wissenschaft, Produktion und des Entertainments entstanden. Fünf Jahre nach der Grundsteinlegung Deeptowns zeigen sich indes auch negative Folgen dieser virtuellen Welt. Deeptown ist zu einem bloßen Spiegelbild des realen Lebens verkommen und in keiner Weise mehr frei von den Lastern und Unzulänglichkeiten der menschlichen Natur. Dieser Fehlentwicklung soll mit dem Projekt Sweet
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