Der falsche Spiegel: Roman (German Edition)
Leser zum Guten zu erziehen, ein solches Prinzip verkündet? Und was erwartest du dann von diesem computergenerierten Imperator? Er wird andauernd umgebracht! Jeden Tag! Die Leute kommen überhaupt nur zu ihm, um ihn zu töten. Niemand besucht ihn, um mit ihm in seinem Park Tee zu trinken! Verdammt noch mal, er konnte gar nicht anders werden!«
»Ja, ja, ich habe es verstanden!«, knurrt Bastard. »Allerdings findest du am Ende immer für alles eine Rechtfertigung!«
»Eben habe ich dir nur dargelegt, was mich das Leben gelehrt hat«, sagt Dschingis. »Und natürlich kannst du nicht alles rechtfertigen. Aber fast alles. Lies weiter, Leonid!«
»Die zweite Testserie«, fange ich an. Maniac und der Magier haben diesen Teil während des Geplänkels von Dschingis und Bastard schon gelesen, warten aber geduldig, bis ich die Seite umblättere. »Hier wurden Experimente mit Freiwilligen durchgeführt, die mindestens zwölf Stunden pro Tag in der Tiefe verbringen. Bei Beginn der Experimente variieren die technischen Daten ihrer Rechner von mittlerer bis maximaler Schnelligkeit nach US-Standard.
Die freien und allgemein zugänglichen Server, über die Deeptown läuft, dienten als zusätzliche Ressourcen. Wie aus den Grafiken hervorgeht …«
»Wo sind die Grafiken?«, fragt Pat. Ich ignoriere die Frage, Dschingis erklärt Pat mit schnellen und leisen Worten etwas. Wahrscheinlich die Bedeutung des Wortes Resümee.
»Die ersten Hinweise auf ein Afterlife wurden nach vier Monaten beobachtet. Zum einen war die Reaktionsgeschwindigkeit um ein Vielfaches gesteigert, was nur mit technischen Mitteln festgestellt werden konnte. Zum anderen lag ein gewisser Abstand zwischen dem Aufwachen eines Menschen aus der Deep-Hypnose und dem Verschwinden seiner virtuellen Figur. Nach einem Jahr war bei allen Probanden des Experiments eine ›Fremdsteuerung‹ zu beobachten. Sobald sie sich in der virtuellen Welt aufhielten, wähnten sie sich in einem Zustand, der mit einem Drogenrausch zu vergleichen ist; ihr Körper schien unabhängig von ihnen zu agieren, eine dritte Person schien für sie zu sprechen. Die Probanden selbst schienen sich dieser ›Fremdsteuerung‹ indes nicht bewusst, sondern fassten offenbar alle verbalen Äußerungen und alle Taten als eigene und angemessene Reaktion auf. Als abschließender Beweis für ein Afterlife kann das Verhalten der virtuellen Figur nach erzwungener Abtrennung vom (menschlichen) Operator angesehen werden. Dabei waren zunächst eine kurzzeitige ›Erstarrung‹ der Figur sowie inadäquate Reaktionen auf die Umwelt zu beobachten; anschließend folgte jedoch eine kurze Phase äußerlich sinnvoller und in das Verhaltensmuster des Operators passender Handlungen. Im Zuge wiederholter Experimente gelang es, die Phase der ›Erstarrung‹ derart abzukürzen, dass sie durch technische Mittel nicht mehr nachgewiesen werden konnte. In Einzelfällen existierte die virtuelle Figur bis zu mehreren Stunden eigenständig weiter, die maximale Dauer lag dabei bei 26 Stunden und 13 Minuten, was deutlich über der Zeit liegt, die
ein Mensch in der Tiefe bleiben kann . Äußerlich zeigten die Figuren keine Auffälligkeiten, sie waren imstande, über alltägliche und Fachthemen zu kommunizieren. Darüber hinaus erzählten sie (subjektiv gelungene) Witze, ließen Emotionen sowie depressive Reaktionen erkennen. In drei Fällen wurden kreative Handlungen beobachtet, für die sich keine Analogien festhalten ließen; in einem Fall hat die virtuelle Figur eindeutig intuitive Fähigkeiten erkennen lassen.«
»Scheiße«, sagt Bastard. »Scheiße, scheiße und noch mal scheiße. Die haben eine Künstliche Intelligenz geschaffen!«
»Wenn es bloß das wäre.« Dschingis setzt sich neben mich. »Leonid, du weißt, um was es hier geht?«
»Sie kopieren …«, sage ich. »Sie kopieren deine Persönlichkeit. Sie übertragen dich in die virtuelle Welt. Wenn sie das auch tun, ohne das Gedächtnis zu kopieren. Aber das könnte wohl niemand. Von dir bleibt nichts als ein Abdruck deiner Persönlichkeit in der Tiefe . Und dieser Abdruck fängt dann an, sein eigenes Leben zu führen. Er greift auf alle Ressourcen zurück, die ihm zugänglich sind. Er imitiert menschliches Verhalten …«
»Sag mal, mein Junge«, wendet sich Bastard an Pat, »wärst du bereit, deinen Doppelgänger in der Tiefe anzusiedeln?«
»Warum nicht? Das würde mir wahrscheinlich sogar Spaß machen«, antwortet Pat. »Ich würde die Tiefe verlassen, und er
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