Der falsche Spiegel: Roman (German Edition)
der Dark Diver sei Nike. Dann war mir klar geworden, dass hinter Nike Vika steckte …
Und dann hatte ich ein Gleichheitszeichen zwischen beide Gleichungen gesetzt, ohne zu bedenken, dass in der einen immer noch eine Unbekannte auftauchte.
»Ich bin nicht der Dark Diver, Revolvermann. Ich bin mit euch ins Labyrinth gegangen … weil ich dich da nicht allein lassen wollte. Du solltest jedoch nicht wissen, dass ich in die Tiefe gehe. In gewisser Weise habe ich dich also doch hinters Licht geführt, und das tut mir leid. Aber ich bin nicht der Dark Diver.«
»Vika …«
»Es gibt nichts, was die Tiefe mir geben könnte, Ljonka. Es gibt nichts, was sie mir nehmen könnte … abgesehen von dir.«
»Vika …«, wiederholte ich. Alle Worte waren zu kalten, spitzen Kieseln geworden, scheuerten hässlich wie Sand auf meinen Lippen. Alle Worte hatten sich in Luft aufgelöst. Nur ihr Name war mir geblieben. »Vika …«
»Du magst es nicht, wenn dir jemand hilft, Ljonka. Du bist daran gewöhnt, stark zu sein. Du bist daran gewöhnt, dir selbst zu helfen, du bist daran gewöhnt zu retten, andere aus der Tiefe zu ziehen und zu verteidigen, du bist daran gewöhnt zu kämpfen und zu gewinnen.« Sie lächelte. »Du bist ein Diver … und wirst sogar dann noch einen Ertrinkenden an den Haaren aus
dem Wasser ziehen, wenn du selbst längst untergehst. Und du wirst jede helfende Hand ausschlagen … Bestenfalls erlaubst du es jemandem, neben dir herzuschwimmen.«
»Vika … das stimmt nicht …«
»Das ist ein Teil der Wahrheit, und zwar kein geringer. Die Ereignisse vor zwei Jahren haben dich stärker getroffen als jeden anderen von uns. Du hast dich selbst verloren, Ljonka. Sogar Romka hat all das besser verkraftet – das darfst du über seinem Tod nicht vergessen. Aber du hast dich eingeigelt. Du hast alle Fäden gekappt, du wolltest gar keinen Ausweg aus deiner Misere finden. Du hast dir immer wieder eingeredet, dass du kein Diver mehr bist.«
»Aber ich bin wirklich kein Diver mehr. Ich bin nur noch ein Niemand.«
»Und deshalb schleppst du gezeichnete Möbel durch die Gegend? Trinkst gezeichneten Wodka in billigen virtuellen Kneipen? «
»Ja – eben weil ich heute ein Niemand bin.«
Vika schüttelte den Kopf. Sie berührte noch einmal meine Hand. »Vor wem läufst du weg, Leonid? Vor wem oder vor was?«
»Mich würde viel eher interessieren, wohin ich renne, Vika. Ich weiß, was ich verloren habe, aber ich weiß nicht, worauf ich zusteuere.«
»Ljonka …«
Sie umarmte mich, und das kam so überraschend, dass ich zusammenzuckte. Sie schmiegte sich gegen meine Brust. Nichts von dem, was sie sagte, stimmte. Aber das behielt ich für mich.
»Ljonka, du hast nichts verloren …«
Ich antwortete nicht. Ich saß da, hielt sie in den Armen, vergrub mein Gesicht in ihrem Haar – und schwieg.
»Ljonka, Diver zu sein, das bedeutet, Talent von einer höheren Instanz erhalten zu haben. Von Gott, dem Schicksal oder den
Genen. Da mag jeder das einsetzen, was ihm zutreffend erscheint. Was hast du verloren, Ljonka? Die Fähigkeit, jederzeit aus der Tiefe aufzutauchen? Nein. Die Fähigkeit, etwas zu sehen, das andere nicht sehen? Ja – aber war diese Fähigkeit wirklich so wesentlich?«
Wesentlich oder nicht … hier stand etwas ganz anderes zur Debatte.
Mein Schicksal.
»Ich weiß, woran du jetzt denkst. Du konntest Wunder wirken. Kleine Wunder, als du bloß ein einfacher Diver warst, große Wunder, nachdem du den Loser getroffen hast. Genau das wurde dir dann genommen. Doch nicht nur dir, sondern uns allen. Aber hängt daran wirklich dein ganzes Leben, Ljonka?«
»Das war mein Schicksal.«
»Nein – das war nur das, was du aus deinem Schicksal gemacht hast. Es war lediglich die Form oder das Instrument, aber nicht sein eigentlicher Kern. Was meinst du, gab es viele Dreckskerle unter den Divern?«
»Wir haben immerhin geklaut. Programme, Geld und Geheimnisse. «
»Und? Wie viele von den Divern haben das getan? Und wie oft?«
»Nicht viele, aber …«
»Wie viele Dreckskerle gab es unter uns, Ljonka? Wie viele Diver haben ihr Talent missbraucht? Spiele, Wetten, Hacks und Diebstähle, ja, das gab es – aber niemand hat sich auf wirklich miese Sachen eingelassen. Du kannst die Gesetze einer Gesellschaft verletzen – aber du darfst nie die Gesetze der Moral verletzen. Hast du das vergessen?«
»Aber damals haben wir alle zusammengehalten. Wir hatten unseren Kodex. Was ist denn davon noch geblieben?«
»Du spielst
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