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Der falsche Spiegel: Roman (German Edition)

Der falsche Spiegel: Roman (German Edition)

Titel: Der falsche Spiegel: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Lukianenko
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dem Nachttisch ab, stand auf und strich sich den Rock glatt.
    »Ich muss los. Viel Glück, Ljonka«, sagte sie lächelnd. »Eine gute Verbindung und ein schnelles Ping.«
    Mit welchen Worten man wohl eigentlich in die Schlacht geschickt wird?
    Keine Ahnung. Zum Glück nicht. Ich hatte noch nie jemanden in den Krieg schicken müssen, war auch noch nie selbst in einen gezogen. In meinem Gedächtnis flackerten Bilder aus meinen Schulbüchern, aus Romanen und Filmen auf. Hieß es damals: Kehre zurück mit deinem Schild oder auf ihm? Das vielstimmige Gejammer der Frauen … Der schweigende, nicht einmal flehende Blick, der sich vorab mit allem abfand, was geschehen würde …
    Oder sagte man heute: Eine gute Verbindung und ein schnelles Ping? Doch selbst dieser Wunsch war inzwischen veraltet, denn ich ging nicht mehr übers Modem in die Tiefe , um dann bei einem Verbindungsabbruch zum Götzenbild zu erstarren, bis die Verbindung wiederhergestellt war. Und um mich bei miserabler Verbindung nicht mit verzögerten Antworten herumzuschlagen. Aber ein neuer Abschiedsgruß war noch nicht formuliert. Oder wir hatten ihn noch nicht gehört.
    Ich sollte Pat oder Ilja mal danach fragen, die müssten das wissen.
    Noch vor einer Woche hätte ich allerdings gedacht, dass ich Romka fragen könnte …
    Die Wohnungstür schlug zu. Ich stand auf und fegte die Krümel aus dem Bett auf den Boden. Heute Abend würde ich ganz bestimmt putzen. Um Vika eine Freude zu bereiten. Ich würde sogar wischen. Und in den Regalen und Schränken Staub wischen.
    Und jetzt raus aus dem Bett!
    Erst mal sollte ich duschen. Wechselduschen. Mit Duschgel, das nach Moschus roch.
    Wer hatte gesagt, dass er heute nicht in die Tiefe gehen wollte?
    Irgend so ein Typ, von dem ich schon mal entfernt gehört hatte …
    Ich fuhr mit meiner feuchten Hand über den beschlagenen Spiegel und betrachtete mich. Meine Augen waren kaum noch gerötet. Und meine Lippen, die normalerweise zu einem schmalen Strich zusammengepresst waren, hatten sich ein wenig entspannt.
    Ein Kompromiss?
    Vielleicht finden wir den ja wirklich. Ein schlechter Friede war immer noch besser als ein guter Streit.
    Wenn der Dark Diver doch damals bloß nicht Bastard und Romka in diese Sache reingezogen hätte. Dann würde mein Freund jetzt noch leben …
    »Ich werde es versuchen, Vika«, sagte ich. »Ich werde es versuchen. Ehrenwort.«
     
    Die Metro war gerammelt voll. Ich war nicht mehr daran gewöhnt, zur Rushhour unterwegs zu sein. Ich stand unmittelbar an der Tür, eingezwängt zwischen einem alten Penner, einer vorzeitig
verhärmten Frau und einem mürrischen Teenager mit Kopfhörern über den Ohren. Mit meiner vernachlässigten Garderobe, der verschlossenen Miene, der bleichen Gesichtsfarbe und dem angespannten Blick dürfte ich kaum besser aussehen als sie, von dem Alten in dem speckigen Mantel vielleicht abgesehen.
    Im Grunde war das hier ein guter Ausschnitt aus unserer Gesellschaft. Ihm fehlte nur noch ein Neureicher wie Dschingis. Aber solche Typen steigen nicht in die Metro. Doch auch ohne sie bot sich mir kein schlechtes Bild. Ein Alter, dem bereits alles egal war, eine Frau, die ihr Päckchen zu tragen hatte, und ein Junge, der seine Umwelt weder hören noch sehen wollte.
    Und ich natürlich.
    Ein Diver, der weniger aufgetaucht als vielmehr an die Oberfläche getrieben worden war. Wie eine Wasserleiche. Von dem Alten hatte ich die Gleichgültigkeit gegenüber meinem vergänglichen Körper und meinem Äußeren, von der Frau die Müdigkeit, auch wenn sie bei mir nicht von stundenlanger Arbeit in einem Laden oder Büro herrührte, sondern auf meine eigene Dummheit zurückging, und von dem Teenie die blockierten Ohren – sobald die Sprache auf die reale Welt kam.
    Was fehlte uns bloß? Was? Hier, in der realen Welt? Ich glaubte nicht daran, dass es mehr schlechte als gute Menschen gab. Ich glaubte nicht daran, dass wir alle schwach waren. Ich glaubte nicht daran, dass alle ihren Mitmenschen immer nur Böses an den Hals wünschten. Sicher, es ließen sich unzählige Beispiele gegen diese Sicht anführen. Mörder, Psychopathen, Perverse, irgendwelche Rowdys, Egoisten und Dreckskerle. Die Welt war voll von ihnen. Trotzdem stellten sie nur eine Minderheit dar – andernfalls hätte sich die Welt längst in ein entsetzliches Schlachtfeld verwandelt.
    Oder war das am Ende längst geschehen?
    Nein. Wahrscheinlich nicht. Sonst hätte dieser kräftige Teenie den Alten, der am Boden lag, getreten, um

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