Der falsche Spiegel: Roman (German Edition)
Dutzende von Fachleuten gesessen haben, verschwinden nicht einfach in der Versenkung«, bemerkte Dschingis. »Das ist gar nicht denkbar. Daher kann die Frage nur lauten, wann Dibenko das Programm auf den Markt wirft.«
»Wir müssen den Dark Diver fragen«, sagte ich. »Was er eigentlich vorhat.«
»Wen haben wir denn da?« Dschingis kniff die Augen zusammen. »Man soll doch keine Ruhe haben.«
»Hallo allerseits.« Pat tapste barfuß und in Jeans in die Küche und rieb sich die Augen. »Was seid ihr heute alle so früh auf?«, brummte er, als er den Kühlschrank öffnete. Nach einer kurzen Inspektion nahm er sich einen Becher Joghurt und ließ sich auf einen Stuhl plumpsen. »Außerdem weckt ihr mit eurem Geschrei das ganze Haus auf!«
»Geh dich waschen«, befahl Dschingis.
»Mhm, wenn ich gegessen hab.«
»Eine kluge Entscheidung«, unterstützte ihn Bastard. »Mit zu viel Hygiene biederst du dich nur der verhätschelten westlichen
Gesellschaft an. Ein echter Hacker muss dreckig und ungekämmt sein, gelbe Zähne und eine graue Gesichtsfarbe haben.«
Pat sah Bastard von unten herauf an, löffelte aber dennoch stur den Joghurt weiter.
»Ich habe heute was zu tun«, erklärte Dschingis. »Ich kann erst abends in die Tiefe gehen. Treffen wir uns wieder bei mir … aber in der Tiefe . Um sieben. Nein, besser um acht. Passt euch das?«
»Könnten wir uns nicht eher treffen?«, wollte Pat wissen.
»Du solltest vorerst sowieso nicht in die Tiefe , mein Junge«, teilte ich ihm mit.
»Wieso das denn nicht?«
»Weil Kinder traditionell die besten Geiseln abgeben.«
»Dann werde ich halt als zwei Meter großer Kerl mit dickem Bart auftreten«, konterte Pat.
»Leonid hat recht«, mischte sich Dschingis ein. »Ich glaube, die nächsten Tage solltest du auf die virtuelle Welt verzichten.«
Im Blick des Jungen las ich, dass ich in seiner Achtung gewaltig gesunken war. Ein Sturz in die endlose Schlucht vor dem Tempel dürfte nichts dagegen sein.
»Auf dich bin ich sowieso stinksauer, Ljonka!«, fuhr Pat mich an.
»Aber du musst trotzdem …«
»Du hast mich mit dem Raketenwerfer abgeschossen!«, warf mir Pat vor, während er den Löffel ableckte. »Du hast mich umgebracht! Was, wenn ich einen Schmerzschock gekriegt hätte? Oder mein Blinddarm geplatzt wäre?«
»Rede nicht so einen Unsinn!«, verlangte Dschingis. »Du gehst heute nicht in die Tiefe und damit basta.«
»Wir werden ja noch sehen, wie weit ihr ohne mich kommt«, knurrte Pat. »Was ist mit diesem Programm? Ich würde es gern mal ausprobieren … nicht in der Tiefe , sondern einfach so … Mir die Readme-Datei ansehen …«
»Ich habe mein Passwort vergessen«, antwortete Dschingis grinsend. »Hast du aufgegessen? Ja? Gut, dann geh dich waschen! «
»Ihr Schufte!«, warf Pat uns hin, als er aufstand. »Echte Heldentat! Drei Männer gegen ein Kind!«
»So eingeschnappt wie du bist, kannst du wirklich nur ein Kind sein«, bemerkte Bastard und langte nach einer Papirossa. »Aber wenn es darum geht, Pornos runterzuladen, dann bist du natürlich ein ganzer Mann.«
Da Pat es anscheinend nicht auf einen Streit mit Bastard anlegen wollte, schnaufte er bloß und ging hinaus.
»Er wird sich die Dateien doch nicht vornehmen?«, fragte ich.
»Nein. Er weiß, dass wir nicht scherzen«, beruhigte mich Dschingis und zündete sich eine Zigarette an.
»Wovor genau haben wir eigentlich Angst?«, fragte Bastard. Er stieß eine dicke Rauchwolke aus. »Okay … so was hat es noch nie gegeben. Das ist eine ganz neue Dekoration im Theater des Lebens. Eine künstliche Intelligenz … ein kluger – oder fast kluger – elektronischer Doppelgänger, die Möglichkeit, zugleich in der Tiefe und in der realen Welt zu sein …«
»Das ist keine neue Dekoration«, unterbrach ich ihn. »Das ist ein neues Stück, in dem wir … nicht auftreten, sondern leben müssen.«
»Ist doch auch egal. Aber wir misstrauen immer erst mal allem, was neu ist. Wir verdächtigen alle anderen und fürchten sie gleichzeitig. Aber was, wenn dieses Programm wirklich ein Wunder ist? Die Rettung? Der Beginn eines neuen Zeitalters? Lassen wir doch die Roboter für uns schuften, mir soll’s nur recht sein!«
Bastard bedachte uns mit einem triumphierenden Blick. Ich hüllte mich in Schweigen. Dschingis ebenfalls.
»Also …« Bastard drückte die Papirossa behutsam aus und legte sie aufs Fensterbrett. »Werft die nicht weg, vielleicht rauche ich sie nachher weiter. Ich hau mich noch ’ne
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