Der falsche Spiegel: Roman (German Edition)
mit diesem Tritt alles, was alt und dreckig in dieser Welt war, auszulöschen. Die Frau würde die Münzen aufklauben, die dem Opfer aus der Tasche rollen. Die übrigen Fahrgäste würden Wetten abschließen, wann der Alte endlich verreckt.
Und ich würde zu Hause sitzen, mit einem VR-Helm auf dem Kopf und im Sensoranzug und mich leicht auf dem Stuhl winden, während zarte Huris in den paradiesischen Labyrinthen Deeptowns meinen virtuellen Körper verwöhnen …
Stattdessen fuhr ich jedoch zu Dschingis – und zwar nicht weil mir persönlich Gefahr drohte. Und der Junge würde mir ins Gesicht spucken, die Frau mir eine Ohrfeige geben, wenn sie meine Gedanken lesen könnten.
Dabei waren diese Gedanken keineswegs aus der Luft gegriffen. Der Junge verzog tatsächlich angeekelt das Gesicht, sobald sein Blick auf den Penner fiel. Und die Frau wäre vermutlich froh, hätte sie die zwei Dollar pro Tag, die ich ohne groß nachzudenken täglich an die Firma Newcombs-Port für das Recht zahlte, in die Tiefe zu gehen.
Nein, in allen von uns steckte eben doch noch etwas, das uns nicht nur wie eine Bestie die Zähne fletschen ließ, das über die virulenten Instinkte eines Tieres und über schallendes Gelächter hinausging. Mal mehr, mal weniger stark ausgeprägt. Aber ohne Frage steckte es in uns allen. Trennte Mensch von Tier. Es war ein solides Gitter, das man durchsägen oder fest einmauern konnte, je nach Gusto. Es war eine Brücke über einem Abgrund.
Keine Ahnung, wann wir auf dieses Gitter verzichten können. Vielleicht wirklich erst dann, wenn die Ziege sich neben dem Schneeleopard zur Ruhe legt.
Und nur wenn ich fest davon überzeugt wäre, dass dieses Gitter für alle Zeiten weiterexistiert, dann hätte ich mir noch gestern die Pistole von Dibenko geschnappt und in Deeptown für Ordnung gesorgt.
Dschingis öffnete mir. Er war frisch rasiert und trug Jeans und ein kariertes Flanellhemd.
»Komm rein«, forderte er mich auf, ohne über mein Auftauchen verwundert zu sein.
»Habe ich dich auch nicht geweckt?«
»Nein. Ich stehe immer früh auf. Mit Pat und Bastard ist allerdings erst gegen Mittag zu rechnen.«
Hinter Dschingis tauchte Byte auf. Ich hielt dem neugierigen Retriever die Hand hin, der Hund stupste seine Nase gegen sie, erkannte mich und rieb sich an meinem Bein.
»Gehen wir in die Küche?«, schlug Dschingis vor.
»Um Bier zu trinken?«, fragte ich misstrauisch.
»Nein, ich denke, wir könnten jetzt einen Kaffee gebrauchen. Mit Kognak. Oder mit Schwarzem Rigaer Balsam. Falls du den magst.«
»Was für eine Frage, natürlich. Wie es sich für jeden Bürger der ehemaligen UdSSR gehört.«
Anscheinend war es mir heute vom Schicksal bestimmt, ständig Kaffee zu trinken.
In der Küche hatte sich nichts verändert. Rein gar nichts. Selbst die leeren Shiguljowskoje-Flaschen standen noch herum. In Anbetracht der Tatsache, dass Bastard Bier wie Wasser trank, bezweifelte ich allerdings, dass es dieselben waren.
»Dann wollen wir mal!«
Dschingis schien löslichen Kaffee zu verachten. Ebenso eine Kaffeemaschine. Ich saß da und sah zu, wie er eine Handvoll Bohnen in eine kleine Kaffeemühle gab und sie eigenhändig,
langsam und penibel mahlte. Der Kaffee war Colombo, von der russischen Firma namens Moskowskaja Kofeinja na pajach.
»Ich hoffe, du hast nichts gegen russischen Kaffee einzuwenden? «, fragte Dschingis. »Es gibt ja Leute, die rümpfen da die Nase, aber … es ist wirklich guter Kaffee. Anständig geröstet. Ich kaufe keine Importware, wenn es adäquate russische Produkte gibt.« Er dachte kurz nach, ehe er fortfuhr: »Nur findest du sie eben verdammt selten.«
»Keine Sorge, wir haben auch russischen Kaffee zu Hause.«
Was für ein Vergnügen, reich zu sein. Da kannst du dich so bescheiden geben.
»Womit hast du eigentlich dein Geld gemacht, Dschingis?«
»Mit Scheiben«, antwortete Dschingis gelassen. »Mit Raubkopien von CDs und DVDs. Windows Home für ein paar Dollar, aktuelle Spiele, Programmpakete … Wenn du was im Mitinski-Mediamarkt oder an irgendeinem Kiosk kaufst, dann fließt dein Geld in meine Tasche. Für den Kaffee.«
Er gab die gemahlenen Bohnen in ein langstieliges Kupfergefäß.
»Wenigstens profitierst du ja jetzt von meinem schändlich erworbenen Geld.«
»Aha.«
»Dann sind da noch die Übersetzungen von Spielen … Wenn mir ein Spiel gefällt, mache ich sie selbst. Wenn nicht, gebe ich die Arbeit weiter an irgendwelche Kumpel. Manchmal auch an Pat. Er
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