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Der falsche Spiegel: Roman (German Edition)

Der falsche Spiegel: Roman (German Edition)

Titel: Der falsche Spiegel: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Lukianenko
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Daran, einfach loszulegen, auch wenn wir von einer Sache nichts verstanden. Daran, für etwas bezahlt zu werden, das nicht jeder als Arbeit bezeichnen würde.
    Dieser Aspekt im Diver-Leben hat dazu geführt, dass wir inkognito blieben.
    »Coole Typen«, sagt Ilja bloß. »Aber das weiß ich. Was ist mit dem Tempel?«
    Ich werde immer nervöser. Hier ist doch was im Busch. Irgendwas treibt diesen Jungen um, der jetzt seit einem halben Jahr mein Kollege ist – und ein halbes Jahr in der Tiefe zählt viel mehr als sechs Monate in der realen Welt.
    »Dann kam vor zwei Jahren das Aus für diese coolen Typen«, fahre ich fort. »Das endgültige Aus. Zum einen, weil die Leute nicht mehr ertranken. Das Deep-Programm hat sie zwar nach wie vor in die Tiefe gebracht, aber das war nur noch ein kontrolliertes Eintauchen. Als ob du Bungee-Jumping ins Wasser machst. Nach einem Tag, und zwar exakt nach vierundzwanzig Stunden, es geht hier höchstens um plus minus zehn Minuten, kehren alle in die reale Welt zurück.«
    »Ich bin noch nie einen ganzen Tag in der Tiefe gewesen«, weiht mich Ilja mürrisch in seinen Kummer ein. Er trinkt einen Schluck Bier und verzieht das Gesicht. »Kommen sie noch in fremde Server rein?«
    »Nein, die Diver sehen die Löcher in den Programmen nicht mehr«, sage ich. Ich grinse, als erfülle mich diese Tatsache mit enormer Genugtuung. »Sie können immer noch jederzeit aus der Tiefe auftauchen und brauchen keinen Timer. Wenn sie wollten, könnten sie die Vierundzwanzig-Stunden-Beschränkung überwinden. Aber warum sollten sie? Wo sie eh keine Arbeit mehr haben. Deshalb sind die Diver krepiert. Deshalb halten sie sich heute mit allem möglichen Mist über Wasser.«
    »Scheiße, das tut mir leid.« Anscheinend kennt Ilja wirklich nicht alle Fakten des kurzen Flugs und des langen Falls von uns Divern. »Aber wie konnte es dazu kommen?«
    »Das weiß niemand.«
    Eine knappe Antwort, um endlosen Fragestunden zu entgehen.
    »Und der Tempel?«
    Ich seufze. Das ist absolut ehrlich. Denn diese Frage lastet mir auch auf der Seele. Neben anderen.
    »Als … als die Diver verstanden haben, dass ihre Stunde geschlagen hat … hat einer von ihnen vorgeschlagen, ein Denkmal zu errichten … als eine Art Club. Und es Diver-in-der- Tiefe -Tempel zu nennen. Der sollte von allen Divern gemeinsam gebaut werden. Schließlich hatten sie ja nicht nur ihre besonderen Fähigkeiten, sie alle konnten noch andere Sachen. Es sollte ein Haus werden, das nur Diver betreten konnten. Trotz allem, was geschehen ist, sollte es nur ein Diver schaffen, dort einzutreten.«
    »Und? Ist der Tempel gebaut worden?«
    »Das weiß ich nicht. Viele haben ihre Mitarbeit abgesagt. Gleich am Anfang und ganz entschieden. Sie alle machten sich Sorgen, wie sie in Zukunft über die Runden kommen sollten. Die Welt hatte sich verändert. Die Möglichkeit ihres Zuverdienstes war verschwunden, ihr besonderer, privilegierter Status abgeschafft. Und dann sollten sie Zeit, Geld und Energie an so ein Wahnsinnsvorhaben verschwenden …«
    »Aber gibt es ihn nun, diesen Diver-in-der- Tiefe -Tempel, oder nicht?«
    In Iljas Augen steht noch immer allein diese eine Frage geschrieben. Ich sehe ihn mir genauer an. Er hat ein verdammt ausdrucksstarkes Gesicht. Ein lebendiges, echtes Gesicht.
    Solche Gesichter werden nicht am Tablet-PC gezeichnet. Solche Gesichter kriegen nur Diver hin. Und Ilja ist kein Diver.
    »Sag mal, Ilja, dein Äußeres … Siehst du wirklich so aus wie jetzt?«
    »Was spielt denn das für eine Rolle?« Ilja verkrampft sich sofort.
    »Bist du tatsächlich ein Junge?«
    »Ja! Was ist jetzt mit diesem Tempel?«
    Ich kann es irgendwie nicht fassen. Ein halbes Jahr kenne ich ihn, wenn auch flüchtig. Die ganze Zeit habe ich angenommen,
er sei ein erwachsener Mann – und nun stellt sich raus, er ist ein zwölfjähriger Bengel!
    »Ich weiß es nicht«, antworte ich. »Ehrlich nicht.«
    Nein, Ilja lügt bestimmt. Er kann kein Kind sein. Aber wieso eigentlich nicht? Hatte ich etwa noch nie ein Kind in der Tiefe gesehen? Entweder ein Wunderkind, das so unendlich langweilig und alt ist, oder eben ein normales Kind. Gut, bei Romka habe ich auch nicht gemerkt, wie jung er war. Aber letztlich war er ja auch ein bisschen älter.
    »Wenn das so ist …« Ilja steht auf. Ich bin froh, dass er mein richtiges Gesicht nicht sieht. Auf dem dürfte sich jetzt wahrscheinlich ein ganzes Spektrum an Gefühlen widerspiegeln. »Dann such ich ihn eben allein!«
    »Worum

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