Der falsche Spiegel: Roman (German Edition)
besondere Form von Hypnosezustand«, fange ich meinen Vortrag an. »Wenn jemand dieses Programm startet und dann auf seinen Computerbildschirm oder auf die Displays seines VR-Helms sieht, dann fällt er in den Zustand einer kontrollierten Psychose und gelangt so in die Tiefe . Die Folge davon ist, dass er die gezeichnete Welt als Realität wahrnimmt. Kommen dann noch eine Tonspur, die räumliche Darstellung durch den VR-Helm und haptische Eindrücke des Sensoranzugs hinzu, ist die Illusion perfekt. Das Unterbewusstsein ergänzt von sich aus Gerüche, Geschmack und alles, was nicht von den Entwicklern vorgesehen ist. Du weißt zwar, dass dieses Restaurant gezeichnet ist, dass das Essen eigentlich gar nicht existiert, ich bei mir zu Hause sitze, und du bei dir …«
Iljas Gesicht spiegelt klar wider, was er von solchen Vorträgen hält, deshalb überspringe ich diesen Teil, den eh jedes Kind kennt.
»Wie sich nach Entstehung der Tiefe und der virtuellen Stadt Deeptown zeigte, kann ein Besucher der virtuellen Welt diese nur an einem speziell eingerichteten Ausgangspunkt wieder verlassen.
An einem Ort, wo ein Pendant seines Rechners steht, an dem er den Befehl zum Austritt eingeben und sehen kann, wie sich das Deep-Programm beendet.«
»Weißt du überhaupt was über den Tempel?«, zischt Ilja.
»Hör zu!«, verlange ich in der Manier eines Sadisten. » Wer will was wissen? Also! Dann hör dir auch alles an!«
Vermutlich rechne ich, bedingt durch Iljas kindliches Äußeres, damit, dass er aufsteht und geht. Aber Ilja lehnt sich auf dem Stuhl zurück und bringt überdeutlich zum Ausdruck, dass er bereit ist zuzuhören, bis er Schimmel ansetzt.
»Damals gab es ein paar Leute, die jederzeit aus der Tiefe auftauchen konnten«, raune ich im Ton eines kleinen miesen Besserwissers, der dem Feind gerade für ein Päckchen Kekse und einen Löffel Marmelade das größte Militärgeheimnis verrät. »Sie wurden Diver genannt, und ihre Arbeit wurde sehr geschätzt.«
Wie hätte es auch anders sein sollen? Wenn ein grundsolider Familienvater einen Monat im Voraus für einen Besuch in den Hängenden Gärten der Semiramis bezahlt hatte, wenn ein Teenager mit Papas Kreditkarte ein paar Wochen durch das Labyrinth des Todes geirrt war, wenn ein frischgebackener Neureicher sich in der virtuellen Welt einen individuellen Foltersaal für seine gezeichneten Kollegen eingerichtet hatte, dann ging die Sache meist übel aus. Sobald dir jedoch jemand den Helm herunterreißt, löst er damit zwar eine leichte Psychose bei dir aus, holt dich aber immerhin aus der Tiefe .
Doch was, wenn es niemanden gibt, der dir diesen Gefallen tun kann?
Deshalb übernahmen wir die Aufgabe, an der Grenze zwischen der realen und der fiktiven Welt für Ordnung zu sorgen. Denn wir verloren niemals die Verbindung zur Realität. Wir schafften es, die Ertrinkenden zu überreden, zu beruhigen, zu trösten und ihnen die echte Adresse zu entlocken, damit wir
dort, in der realen Welt, die Tür eintraten und den User retteten, der schon dehydriert war, sich in die Hosen geschissen hatte und in einen süßen Traum abgedriftet war.
Damals gab es diese Grenze. Eine gute, solide Grenze. Weil sie existierte, wurden wir geliebt.
Unsere Arbeit bestand jedoch nicht nur aus Rettung. Firmen, die sich von der virtuellen Welt günstigere Bedingungen für kreative Arbeit versprachen, bauten ihren Mitarbeiten prächtige Büros, die sie quasi nichts kosteten, und, ja, sie heuerten erfahrene Hacker für den Schutz dieser Büros an …
Die Tiefe lebte aber nach ihren eigenen Gesetzen. Ein winziger Fehler in einem Programm, ein Loch in der Verteidigung, das der beste Entwickler in monatelanger Arbeit hätte suchen müssen, sprang einem Diver förmlich ins Auge. Er sah es als Tür in der Wand, als Loch im Zaun, offenes Oberlicht oder weitmaschiges Netz.
Keine Ahnung, welchen Preis wir für diese Fähigkeit gezahlt haben. Vielleicht die Kopfschmerzen oder die quälenden Migräneanfalle – die nur Ignoranten für eine Krankheit hysterischer Weiber halten. Manchmal haben wir wohl auch mit einem Schlaganfall dafür bezahlt. Oft mit Psychosen, Depressionen und Suizid. Um mit jenem hundertprozentigen Wirkungsgrad zu arbeiten, der in der realen Welt nie erreicht wird, mussten unsere Hirne schmurgeln.
So haben wir die Sicherheitssoftware geknackt, ohne auch nur zu wissen, wie. Ob deshalb die meisten Diver aus Russland stammten? Schließlich waren wir an diese … Dreistigkeit gewohnt.
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