Der falsche Spiegel: Roman (German Edition)
Extraeinladung.
Der Designer hatte wirklich gute Arbeit geleistet, die Frau war individuell und nicht in der typischen Tiefe -Manier geschminkt.
»Schließ das Programm, Vika«, befahl ich.
Bist du sicher?
»Klappe.«
Das Bild auf dem Monitor erlosch.
»Fahr den Rechner runter«, verlangte ich und erhob mich. Ein Blick auf die Uhr. Fünf vor sieben.
Die echte Vika schlief noch. Ich zog den Sensoranzug aus und schmiss ihn auf den Sessel, streckte mich auf dem Sofa aus und kroch unter die Decke, die Vika gestern Abend bereitgelegt haben musste – falls ich doch noch nach Hause käme und hier schlafen wollte.
In meinem Kopf herrschte das reinste Chaos.
Romka war tot.
Durch Deeptown zogen Typen mit einer Waffe, mit der sie jemanden in der Realität töten konnten.
Die Dateien, die den Schlüssel zu alldem bargen, hielt – sozusagen – ein Junge in Händen, mit dem ich seit einem halben Jahr zusammenarbeitete. Läge die Diskette mit den Daten auf dem Mond, käme ich allerdings auch nicht leichter an sie heran.
In den letzten vierundzwanzig Stunden hatten sich die Ereignisse förmlich überschlagen. Ein derart stürmischer Anfang verhieß nichts Gutes. Ob sich das Schicksal über mich lustig machte?
Es war, als hätte mir jemand eine Menge Schlösser in die Hand gegeben – dabei aber eine winzige Kleinigkeit vergessen: die Schlüssel.
Natürlich könnte man für jedes Schloss einen Schlüssel auftreiben. Wenn die Zeit dafür da wäre.
Genau das war jedoch nicht der Fall.
Ich schloss die Augen und fiel in einen schweren, unruhigen Schlaf, wie er sich nur nach einer durchgemachten Nacht einstellt.
10
Die linke Wand besteht aus blauem Eis.
Die rechte aus purpurrotem Feuer.
Aber diesmal irre ich nicht durch den Nebel. Ich stehe bereits an der Schlucht, kann meinen Weg beginnen.
»Wie wollen wir die Brücke bauen – an der Schlucht entlang oder quer drüber?«, fragt eine Figur in einem alten Witz.
Die Brücke zieht sich parallel zum Abgrund entlang. Blöder ginge es nicht. Und die Wände aus Eis und Feuer machen die Sache auch nicht leichter.
Das weiß ich leider nur zu genau.
Ich sehe mich um. Vielleicht taucht mein unerwarteter Begleiter ja wieder auf.
Aber nein, hier ist niemand. Hinter mir wabert bloß der Nebel.
Sie sind seltsam, diese Träume von einer Brücke über einem Abgrund. Ich begreife immer, dass ich schlafe. Und ich erinnere mich in diesen Träumen an frühere Träume.
Außerdem bin ich in diesen Träumen nicht allmächtig, wie es sonst in einem Traum häufig der Fall ist. Ich kann nicht in der Luft schweben oder über die Schlucht springen, um mit einem Satz das trübe Licht in der Ferne zu erreichen.
Wobei … eine Sache habe ich noch nicht ausprobiert.
»Tiefe, Tiefe, ich bin nicht dein«, flüstere ich.
Zunächst habe ich den Eindruck, es passiert überhaupt nichts. Es ist eben doch ein Traum, nicht die virtuelle Welt.
Doch dann verändert sich die Umgebung ganz leicht.
Plötzlich haftet ihr ein Hauch von Irrealität an. Die Feuerzungen lecken nicht mehr so gierig nach mir, die an der Eiswand klebenden Körper wirken gröber, gleichen von Raureif überzogenen Silhouetten.
Die Schlucht liegt nun als schmaler Spalt vor mir, das Ergebnis eines Schlags mit einer monströsen Axt – der obendrein die linke Wand in Eis, die rechte in Feuer verwandelt hat.
Lächelnd setze ich im Traum einen Fuß über den Abgrund. Wie leicht das jetzt ist! Aber was soll schon schwer daran sein, über einen Kreidestrich auf dem Straßenpflaster zu balancieren? Wenn das Leben zu einem Zeichentrickfilm wird, dann vollbringen wir Wunder …
Nur fehlt jetzt die Haarbrücke über dem Abgrund. Sobald die Realität verschwunden ist, ist auch sie verschwunden. Es gibt keine Brücke mehr, es gibt nur noch die Schlucht …
Mit einem Aufschrei falle ich in die Tiefe und greife nach der linken Wand.
Die Kälte verbeißt sich in meinen Händen und frisst sich die Arme rauf. Ich spüre, wie mir das Blut gefriert, die Adern reißen, höre, wie die Knochen zerbrechen, sehe, wie meine Haut sich mit Raureif überzieht …
Dann reißen meine Arme an den Ellbogen durch.
Ich stürze haltlos in die Tiefe …
Mein Weg wird von blutigen Fleischklumpen auf der blauen Felswand markiert.
»Leonid!«
Ich öffnete die Augen. Gierig rang ich nach Luft. Im Traum war ich fast erstickt. Am Schmerz, an der Panik, an meinem endlosen Schrei.
Letzten Endes ist die Feuerwand doch wesentlich humaner.
»Um Himmels
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