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Der falsche Spiegel: Roman (German Edition)

Der falsche Spiegel: Roman (German Edition)

Titel: Der falsche Spiegel: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Lukianenko
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geht’s dir denn eigentlich?«
    Hat der heutige Tag nicht schon genug Überraschungen bereitgehalten?
    Aber wann würden wir uns je mit einem Genug zufrieden geben?
    Plötzlich habe ich den Weg von New boundaries zum Bill-Gates-Platz förmlich vor mir. Die Hauswände. Die Fenster. Die Regenrinnen (obwohl bisher niemand auf die Idee gekommen ist, es in Deeptown regnen zu lassen).
    Nein, das kann unmöglich sein!
    »Ich habe einen Brief, den ich in diesem verfuckten Tempel abgeben muss!« Iljas Stimme bricht und wird ganz fiepsig. »Den hier!«
    Ich strecke die Hand aus und nehme den Umschlag an mich. Ein großer Umschlag aus festem Papier, mit dem Logo der Firma und etlichen Briefmarken. Der Umschlag ist leer – und daran würde sich nichts ändern, bis er an seinem Bestimmungsort eingetroffen ist.
    Die Adresse ist von Hand geschrieben. Die Buchstaben sind krakelig.
    Mir fällt ein, wie Romka von seinem Tablet-PC geschwärmt hat, als er ihn neu gekauft hatte. Dass er direkt mit einem Stift darauf schreiben konnte …
    Diver-in-der- Tiefe -Tempel
Rom.
    Mir schwirrt der Kopf. Ich versuche, den Umschlag aufzubekommen, offenbar habe ich all die Losungen vergessen, deren HLD sich – völlig zu Recht – rühmt.
    »Was machst du denn da?«, fragt Ilja erstaunt.
    »Setz dich!«, sage ich und behalte den Umschlag in der Hand. »Na, los! Also … es gibt da eine Sache …«
    Verständnislos nimmt er wieder Platz. Ich könnte vor Wut und Ungeduld schreien.
    Unsere Firma macht ihrem Ruf alle Ehre. Diesen Brief kriegt niemand auf, solange er seinen Bestimmungsort nicht erreicht hat. Jeder Versuch, ihn aufzubrechen, würde damit enden, dass der Inhalt gelöscht wird. Es würde auch nichts bringen, den Brief zu klauen. In dem Fall hat HLD einen ganz besonderen Trick auf Lager: Wird der Brief dem Postboten entwendet, hält der Dieb in der nächsten Sekunde nur noch einen Haufen Schnipsel in der Hand.
    Der Diver-in-der- Tiefe -Tempel.
    Gibt es ihn also doch?
    Habt ihr ihn wirklich gebaut, Leute?
    Auf seiner Flucht kam Romka an Hauswänden vorbei. An Fenstern und Regenrinnen.
    Und an Briefkästen.
    Romka, du hast etwas entdeckt, das alle wissen müssen. Unbedingt. Deshalb hast du an einem Briefkasten gestoppt, vom endlosen Stapel oben auf dem Kasten einen Umschlag genommen
und eine Adresse draufgeschrieben. Du hast ihn dorthin geschickt, wo man dir glauben würde, wo man dir helfen könnte.
    Du hast die heiße Ware in den Umschlag gesteckt, ihn eingeworfen – und bist weitergerannt, hast deine Haken geschlagen und mit irgendeiner vorsintflutlichen Schrottwaffe um dich geballert, bis HLD die kostbaren Daten gespeichert hat, ein Wettlauf gegen die Uhr, denn deine Kiste war bereits am Abnippeln.
    Vielleicht haben dir ja bloß ein paar Sekunden gefehlt. Vielleicht wolltest du dich aber auch über deine Verfolger lustig machen.
    Doch selbst als sich dein Körper schon in Krämpfen wand, deine Lungen versagten und aus deiner aufgebissenen Lippe Blut in den Helm tropfte, hast du nicht begriffen, was dir eigentlich passiert war.
    »Wie gesagt, die Sache ist die, Ilja, dass …« Es fällt mir schwer, die Worte über die Lippen zu bringen. Als ob ich das Sprechen verlernt hätte. »Du wirst den Tempel nicht finden. Und selbst wenn du ihn findest, kommst du nicht rein. Das schafft nur ein Diver.«
    Wie gern würde ich jetzt erwähnen, dass ich ein Diver bin. Wie gern würde ich erleben, wie es ihm die Sprache verschlägt.
    Doch ich bremse mich im letzten Moment.
    Wenn du ein Diver bist, ist es, als hättest du Lepra.
    Letztlich wirst du diese Krankheit nicht mehr los.
    Was jedoch wahrlich kein Grund ist, sich in die Brust zu werfen.
     
    Seit drei Jahren ist HLD nun als Unternehmen in Deeptown tätig. Im Zustellungsbereich ist die Firma quasi unangefochtener Marktführer. Völlig zu Recht.
    Sie bedient einerseits das Segment des Lasttransports, das zwar dumm, aber notwendig ist, um in einer fiktiven Welt die Illusion hundertprozentiger Realität zu wahren.
    Andererseits übernimmt sie die Zustellung schwieriger Korrespondenz – und die kann manchmal absolut notwendig sein.
    Deeptown verändert sich ständig. Firmen gehen pleite oder, im Gegenteil, boomen und wechseln den Standort. Ein User zieht sich eine Weile aus der Tiefe zurück, nimmt seine Besuche dann aber wieder auf, allerdings unter neuem Namen und mit neuer Adresse. Was tust du, wenn du jemanden suchst, aber nicht genau weißt, wo und wer er ist?
    Eben! Du gibst einen Brief bei

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