Der falsche Spiegel: Roman (German Edition)
unserer Firma auf.
Mir persönlich gefällt diese Arbeit nicht, ich schleppe lieber Klaviere durch die Gegend. Aber viele begeistert sie richtig. Wir kriegen zum Beispiel einen Brief rein, der an eine gewisse Olga N. adressiert ist, die vor drei Jahren in der Moschkow-Bibliothek gearbeitet hat. Und dann geht der Spaß los.
Die Bibliothek ist längst umgezogen, alle Mitarbeiter ausgetauscht. Wo anfangen? Selbst wenn du es schaffst, an die Personalakten heranzukommen, heißt das noch nicht, dass die dir weiterhelfen. Dann musst du in ganz Deeptown nach dieser Olga suchen, musst Fäden verfolgen, die vor langer Zeit gekappt worden sind. Wie intensiv du dich dahinterklemmst, hängt vom Wert der Briefmarken auf dem Umschlag ab, denn die Hälfte davon erhält der Postbote.
Dank unglaublicher Anstrengungen, Intrigen und purem Glück wird diese Olga schließlich gefunden. Nur heißt sie jetzt Oleg M. Mit verblüfftem Gesicht reißt er das Kuvert auf – und hält einen Brief von einem verflossenen Verehrer Olgas in Händen. Eine Liebeserklärung, die Bitte, ihm zu verzeihen, der flehende Wunsch, sich abermals zu treffen … Unter schallendem Gelächter berichtet Oleg von drei armen Psychologiestudenten, die sich als Olga N. etwas in der Bibliothek dazuverdient hatten, wobei sie abwechselnd in die Tiefe gegangen sind.
Diese Geschichte geht uns allerdings schon nichts mehr an. Entscheidend ist: Wir haben den Brief abgeliefert.
Natürlich stehen solche Aufträge nicht ständig auf der Tagesordnung, denn durchgedrehte Liebhaber und alte Freunde auf einem Nostalgietrip kann man an einer Hand abzählen …
Dann sind da noch Briefe, die einem verschwundenen Geschäftspartner zugestellt werden müssen und die ein hübsches Sümmchen einbringen.
Wir sind verpflichtet, jedes Gebäude in Deeptown zu finden – selbst wenn die Adresse nirgendwo zu ermitteln ist.
Was für ein brillanter Schachzug von Romka, den Brief an den Diver-in-der- Tiefe -Tempel zu adressieren!
Sollte der Tempel tatsächlich gebaut worden sein, dann würde der Brief dort auch ankommen. Und dann würden die Daten ausschließlich Diver lesen. Dafür würden die Sicherheitsmaßnahmen, die beim Tempelbau ergriffen worden sind, schon sorgen.
Falls der Tempel aber nicht existiert oder Ilja ihn einfach nicht findet, landet der Umschlag zur unbefristeten Aufbewahrung bei HLD. Auch dort ist er verdammt sicher. Ich kenne die Regeln ein wenig. Romka könnte jederzeit bei unserer Firma reinspazieren und den Brief zurückfordern.
Ein optimales Versteck.
Besser ginge es gar nicht.
Nur dass Ilja den Tempel nicht findet, und wenn doch, dann kommt er nicht rein, denn er ist kein Diver.
Und Romka seinen Brief nicht mehr abholen kann. Das Passwort, mit dem er ihn geschützt hat, kenne ich nicht, mich für Roman auszugeben, das klappt also auch nicht.
Scheiße.
»Gib her!«, brummt Ilja und nimmt mir den Umschlag wieder ab. »Ich werd den Tempel schon finden und reinkommen … Wär ja gelacht, wenn nicht.«
Im letzten Moment schaffe ich es noch, mir die Briefmarken anzusehen.
Zwei à einhundert Dollar, eine à fünfzig.
Nicht schlecht!
Das erklärt natürlich auch, warum Ilja Deeptown so hartnäckig auf der Suche nach diesem Tempel durchstreift.
Wirklich ein großzügiges Porto …
Romka hat für diesen Brief mehr bezahlt, als bei dem Hack für ihn rausgesprungen wäre. Wahrscheinlich ist sein gesamtes Erspartes für die Briefmarken draufgegangen.
»Das ist nicht nur dahingesagt, Ilja«, versichere ich. »Du wirst den Tempel nicht finden.« Doch da wird der Junge bereits trübe. Kurz blickt mich noch eine Puppe aus Milchglas an, dann platzt das Glas mit leisem Klirren.
Ein Standardaustritt aus der Tiefe . Der Timer hat sich eingeschaltet.
Mist.
Da weiß ich endlich, wo diese Dateien sind, die Romka das Leben gekostet haben, kriege es rein zufällig raus. – Und dann kann ich nicht an die Daten ran.
Der Appetit ist mir vergangen, nicht mal trinken will ich noch was. Ich sitze an dem leeren Tisch, starre auf das Fleisch, das langsam kalt wird, und auf das Bier, das stur seine Schaumkrone behält.
»Ist hier noch frei?«
Ich hebe den Kopf. Vor mir steht eine atemberaubende schwarzhaarige Schönheit. Groß, schlank, langbeinig. Wie die meisten Frauen in Deeptown. Logisch.
Die ewige Suche nach einem Abenteuer …
»Ja«, sage ich.
Tiefe, Tiefe, ich bin nicht dein.
Ich nahm den Helm ab und sah auf den Monitor. Die Frau stand noch, als erwarte sie eine
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