Der falsche Zeuge
unbeherrschbarer Angst vor behaarten Ungeheuern lahm gelegt, von denen ich glaubte, dass sie mir in der Dunkelheit auflauerten. Schlichen leise auf mich zu. Mit vielen weichen Beinen wie grauenhafte Taranteln. Riesengroße Spinnen, die das Netz des Teufels weben.
Einige Male wurde ich in der Dunkelheit ohnmächtig. Aber die erwartete Disziplin wollte sich nicht einstellen.
Dann begann ich zu überlegen. Und zu organisieren. Versteckte nützliche Sachen hier und da im Keller. Kerzen und Streichhölzer. Limo. Süßigkeiten. Comics. Jeweils nur ein Teil an jeder Stelle. Damit wurde die Dunkelheit zu fahlem Zwielicht. Und der Aufenthalt wurde erträglicher.
Papa war auf seine Art schlau. Schloss mich nie ein, wenn Gäste im Hotel waren. Auch nicht, wenn Siggi Palli da war.
Er wollte keine Zeugen.
In jenen Jahren gingen die Sommer schnell vorbei. Aber die Winter waren lang.
Vielleicht habe ich in ihm meinen Retter gesehen?
Siggi Palli?
Dankte ihm dafür, dass er mich für ein paar Monate von der Dunkelheit erlöst hatte?
Denn im dritten Sommer stand meine Welt Kopf.
Siggi Palli guckte mich anders an, als er im Frühling kam. Irgendwas in seinem Blick weckte auch bei mir neue Gefühle. Ich lebte mich in eine Traumwelt hinein. Nicht nur nachts.
An diesem Abend ging ich früh ins Bett. Lag erhitzt unter der Bettdecke. Erlaubte der Musik, durch mich hindurchzufließen. Und wartete ungeduldig.
Wusste, dass er kommen würde.
Zuerst wunderte ich mich, wie begeistert er von meinem Körper war. Ich fand mich so kindlich. Wie eine dürre Bohnenstange. Mit einer winzigen Brust.
Aber offensichtlich steht er auf solche Mädchen.
In dieser Nacht bekam das Leben auf einmal einen Sinn.
Die nächsten Tage und Wochen drehten sich nur darum, heimlich miteinander zu schlafen. Wie Romeo und Julia. Das Versteckspiel machte uns trunken. Als würden wir eine luststeigernde Droge nehmen. Oder einen verzaubernden Liebestrank. Nichts auf der ganzen Welt gleicht junger Liebe, die geheim gehalten werden muss.
Es musste schief gehen. Papa erwischte uns in einem der Hotelzimmer. Und drehte durch.
Zuerst hat er Siggi Palli in die Sommernacht hinausgejagt. Dann kam er mit einem irren Ausdruck in den Augen zurück.
»Du verdammte, verhexte Scheißhure!«, wiederholte er immer wieder, während er mich schlug. Drosch auf mein Gesicht ein. Schlug auf Arme, Brüste und in den Magen. Hörte erst auf, als ich winselnd auf dem Boden lag.
Wenn ich meine Augen schließe, kann ich die Schläge immer noch spüren.
Uff!
Und als der Herbst kam, brach meine Welt ein zweites Mal zusammen.
Nein!
Ich stehe langsam auf. Mit dem Glas in der Hand. Blase die Kerze aus. Schwanke über den Flur ins Schlafzimmer.
Jetzt reicht’s. Jedenfalls für heute Nacht.
»Schlechte Erinnerungen schreibst du am besten in den Wind.«
Sagt Mama.
8
Samstag
»Heute Mittag habe ich mit Gott gesprochen, und er hat mir gesagt, dass ich mich an dich wenden soll«, sagt Alexander und lächelt von einem Ohr zum anderen.
Als er um die Kaffeezeit bei mir aufkreuzte, sah er überhaupt nicht aus wie einer, der geistesgestört ist. Zumal ich ihn dann auch nie in mein Büro gelassen hätte.
Ganz im Gegenteil, auf den ersten Blick hatte er etwas verdammt Schickes an sich. Erinnerte mich am ehesten an einen stattlichen Hollywoodhelden in den Vierzigern. Zuckersüßes Gesicht, tiefblaue Augen, erotischer Mund.
Er trägt ein feines Stöffchen. Und strotzt vor Selbstbewusstsein. Aber genau die sind erfahrungsgemäß die gefährlichsten. Die Geisteskranken, die so aussehen, als wären sie normal.
»Will ihn jemand verklagen?«, frage ich rasch.
Alexander kapiert den Gag nicht.
»Gott?«, füge ich hinzu. »Oder wieso braucht er einen Anwalt?«
»Nein, nein, du hast mich falsch verstanden, und das zweifelsfrei wissentlich«, antwortet er und lächelt mit gekonnt eingesetzter Nachsichtigkeit. »Ich wende mich immer mit allen Problemen, die auf uns als seine Kinder zukommen, an Gott und frage ihn um Rat. Wir sprechen jeden Abend miteinander und manchmal auch mittags.«
»Hat der alte Knabe sich ein Handy zugelegt?«
»Ich weiß, dass du eines der umherirrenden Schafe bist, Gott hat mir das mitgeteilt. Aber er hat auch gesagt, dass es manchmal notwendig ist, Sünder im Kampf gegen den Antichrist einzusetzen, ja, dann muss man das Böse mit Bösem vertreiben. Deshalb hat er mich zu dir geschickt.«
Das sündige Schaf des Bösen?
Oh Mann!
Ich habe sofort die Nase voll von
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