Der faule Henker - Deaver, J: Faule Henker - The Vanished Man
hat zu seinem werten Publikum gesprochen. Er ist ganz versessen auf Feuer. Er hat sich einen Maskenbildner, eine Musikerin und eine Reiterin als Opfer ausgesucht, weil sie für etwas Bestimmtes stehen – was auch immer das sein mag. Fällt dir noch etwas ein?«
Rhyme schloss abermals die Augen. Strengte sich an.
Doch er sah immer nur die Flammen und die Klingen und roch den Rauch.
»Nein«, sagte er und schaute wieder Amelia an. »Ich glaube, das war alles.«
»Okay. Gut, Rhyme.«
Er durchschaute ihren Tonfall sofort.
Und zwar deswegen, weil er ihn von sich selbst kannte.
Es bedeutete, dass sie noch nicht fertig war.
Sachs blickte von ihren Notizen auf. »Weißt du, ich muss an Locard denken.«
Rhyme nickte. Er hatte sich schon mehrfach auf diesen früheren französischen Kriminalisten bezogen, vor allem auf dessen Grundregel, die später nach ihrem Erfinder benannt worden war. Sie lautete, dass bei jedem Verbrechen ein Spurenaustausch sowohl zwischen Opfer und Täter als auch zwischen Schauplatz und Täter stattfand, wie geringfügig auch immer.
»Ich glaube, es könnte auch eine Art
psychologischen
Austausch geben«, sagte Sachs. »Genau wie bei der Übertragung physischer Partikel.«
Rhyme musste über diesen verrückten Einfall unwillkürlich lachen. Locard war ein Wissenschaftler; er hätte es sich verbeten, dass jemand sein Prinzip auf etwas so Zweifelhaftes wie die menschliche Psyche anwandte. »Worauf willst du hinaus?«
»Du warst nicht die ganze Zeit geknebelt, oder?«
»Nein, erst am Schluss.«
»Das heißt also, dass auch
du
etwas übermittelt hast. Du hast an einem
Austausch
teilgenommen.«
»Ich?«
»Etwa nicht? Hast du denn gar nichts zu ihm gesagt?«
»Doch, sicher. Aber was zählt das schon? Auf
seine
Worte kommt es an.«
»Manches davon könnte eine direkte Erwiderung auf deine Äußerungen gewesen sein.«
Rhyme musterte sie prüfend. Auf ihrer Wange entdeckte er einen kleinen sichelförmigen Rußfleck, und unmittelbar über ihrer herrlich geschwungenen Oberlippe standen Schweißperlen. Sie saß vorgebeugt da, und obwohl sie ganz ruhig klang, konnte er ihrer Körperhaltung die Anspannung und tiefe Konzentration ansehen. Sie ahnte natürlich nichts davon, aber sie schien in diesem Moment genau das Gleiche zu empfinden, das er sonst empfand, wenn er sie über Funk durch einen meilenweit entfernten Tatort lotste.
»Denk darüber nach, Rhyme«, sagte sie. »Stell dir vor, du bist allein mit einem Täter. Nicht unbedingt mit dem Hexer, sondern mit irgendeinem Täter. Was würdest du zu ihm sagen? Was würdest du wissen wollen?«
Er wollte eigentlich gequält aufseufzen und dabei irgendwie zynisch klingen, doch ihre Fragen setzten in seinem Gedächtnis etwas in Bewegung. »Ich weiß es wieder!«, sagte er. »Ich habe ihn gefragt, wer er ist.«
»Gute Frage. Was hat er geantwortet?«
»Er sagte, er sei ein Zauberer… Nein, nicht nur
irgendein
Zauberer, sondern ein ganz spezieller.« Rhyme kniff angestrengt die Augen zusammen und versuchte, sich zu erinnern. »Mir fiel dazu gleich
Der Zauberer von Oz
ein… Die Böse Hexe des Westens.« Er runzelte die Stirn. »Ja, genau. Er sagte, er sei der Zauberer des Nordens. Ich bin mir ganz sicher.«
»Kommt Ihnen das irgendwie bekannt vor?«, wandte Sachs sich an Kara.
»Nein.«
»Er sagte, er könne allem entfliehen. Nur bei uns habe er Zweifel bekommen. Nun ja, bei mir. Er befürchtete, wir könnten ihn aufhalten. Deshalb ist er hier aufgetaucht. Er sagte, er müsse mich vor morgen Nachmittag loswerden. Dann soll offenbar der nächste Mord über die Bühne gehen.«
»Zauberer des Nordens«, sagte Sachs und überflog ihre Notizen. »Jetzt…«
Rhyme seufzte. »Ich glaube, das war jetzt wirklich alles. Ich – bin– fertig.«
Sachs schaltete das Diktiergerät aus, beugte sich vor und wischte ihm mit einem Papiertaschentuch den Schweiß von der Stirn. »Ich weiß. Ich wollte sagen, jetzt könnte
ich
übrigens einen Drink vertragen. Na, wie wär’s?«
»Nur wenn
du
einschenkst oder Kara«, sagte Rhyme. »Lass bloß nicht ihn an die Flasche.« Er nickte säuerlich in Thoms Richtung.
»Möchten Sie auch etwas?«, fragte Thom die junge Frau.
»Sie will bestimmt einen Irish Coffee«, sagte Rhyme. »Warum hat Starbucks den eigentlich nicht im Angebot?«
Kara lehnte auch diesmal den Alkohol dankend ab und bat um eine normale Tasse Kaffee.
Sellitto fragte leise an, ob vielleicht etwas zu essen im Haus sei, da sein heiß ersehntes
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