Der faule Henker - Deaver, J: Faule Henker - The Vanished Man
wachsen. Heute Abend wirkten sie größer als im Laufe des Tages. Ihre Silhouetten sahen prächtig aus – und bedrohlich. Der Lärm, der vom Cirque Fantastique aus dem Central Park herüberschallte, gefiel ihnen nicht.
Auch Rhyme war nicht allzu glücklich darüber. Er hatte versucht zu schlafen, war aber gleich wieder aufgeschreckt, weil das Publikum im Zelt plötzlich stürmisch applaudierte.
»Gilt für die denn keine Sperrstunde?«, murmelte er Sachs zu, die neben ihm im Bett lag.
»Ich könnte den Generator zerschießen«, antwortete sie mit klarer Stimme. Offenbar hatte sie bislang kein Auge zugetan. Ihr Kopf ruhte neben seinem auf dem Kissen, ihre Lippen berührten seinen Hals, und er spürte das leichte Kitzeln ihrer Haare und die Wärme ihrer weichen Haut. Er sah, dass ihre Brüste seine Brust und ihr Bauch seine Hüfte berührten. Ihr Bein lag über seinem. Fühlen konnte er es zwar nicht, aber er genoss die Nähe trotzdem.
Sachs hielt sich stets an Rhymes strenge Regel, dass ein Beamter der Spurensicherung kein Parfum benutzen sollte, weil ansonsten die Gefahr bestand, an einem Tatort andere Gerüche zu überdecken. Gegenwärtig jedoch war sie nicht im Dienst, und er nahm an ihrer Haut einen wohlriechenden, komplexen Duft wahr, zu dessen Bestandteilen Jasmin, Gardenien und synthetisches Motoröl zu gehören schienen.
Sie waren allein im Haus, hatten Thom mit seinem Freund Peter ins Kino geschickt und den Abend mit ein paar neuen CDs, fünfzig Gramm Kaviar, Ritz Crackern und reichlich Moët verbracht, obwohl es nicht einfach war, Champagner durch einen Strohhalm zu trinken. Nun im Dunkeln dachte Rhyme erneut über Musik nach. Wie konnte ein rein mechanisches System aus Tönen und Rhythmen eine dermaßen starke Wirkung haben? Es faszinierte ihn. Je länger er darüber nachgrübelte, desto mehr kam er zu dem Schluss, dass das Rätsel vielleicht gar nicht so groß war. Alles in allem passte Musik sogar sehr gut in seine Welt der Wissenschaft, Logik und Mathematik.
Wie mochte es wohl sein, eine Melodie zu komponieren? Falls die physiotherapeutischen Übungen, denen er sich unterzog, irgendwann einen Effekt zeitigten… würde er dann tatsächlich die Tasten einer Klaviatur betätigen können? Während er noch überlegte, merkte er, dass Sachs ihn ansah. »Hast du schon von der Prüfung gehört?«, fragte sie.
Er zögerte. »Ja«, sagte er dann. Er hatte das Thema den ganzen Abend lang sorgfältig vermieden; wenn Sachs mit ihm über etwas sprechen wollte, würde sie selbst den ersten Schritt tun. Bis dahin existierte das Problem nicht.
»Du weißt, was passiert ist?«
»Nicht in allen Einzelheiten. Ich vermute, es geht um einen quasi-korrupten, selbstsüchtigen Regierungsvertreter und eine überarbeitete, heldenhafte Beamtin der Spurensicherung. Etwas in dieser Art?«
Sie lachte. »Das trifft es ganz gut.«
»Ich kenne das aus eigener Erfahrung, Sachs.«
Die Musik aus dem Zirkus dröhnte weiter dumpf zu ihnen herüber und rief gemischte Gefühle hervor.
Eigentlich
hätten sie über die Störung verärgert sein müssen, aber die Melodie gefiel ihnen, ob sie wollten oder nicht.
»Hat Lon mit dir darüber geredet, seine Beziehungen spielen zu lassen?«, fragte Sachs. »Wollte er im Rathaus anrufen?«
Amelia wird es nie erfahren. Ich bitte meinen Verbindungsmann, die Sache streng vertraulich zu behandeln…
Rhyme kicherte. »Ja, hat er. Du kennst doch Lon.«
Die Musik verstummte. Lauter Beifall ertönte, gefolgt von der kaum wahrnehmbaren und doch fesselnden Stimme des Conférenciers.
»Ich hab gehört, er hätte Ramos übergehen und die Angelegenheit aus der Welt schaffen können«, sagte sie.
»Kann sein. Er hat viel Einfluss.«
»Und was hast du dazu gesagt?«, fragte Sachs.
»Na, was meinst du?«
»Ich frage dich.«
»Ich habe nein gesagt«, antwortete Rhyme. »Ich wollte es nicht zulassen.«
»Wirklich?«
»Ja. Ich habe ihm gesagt, du erreichst diese Beförderung entweder aus eigener Kraft oder gar nicht.«
»Verdammt noch mal«, murmelte sie.
Er sah sie überrascht an. Hatte er sie falsch eingeschätzt?
»Ich bin sauer auf Lon, weil er auch nur daran gedacht hat.«
»Er hat es gut gemeint.«
Ihm war so, als würde ihr Arm, der quer über seiner Brust lag, ihn ein wenig fester drücken. »Was du zu ihm gesagt hast, Rhyme, bedeutet mir mehr als alles andere.«
»Das weiß ich.«
»Es könnte schlimm werden. Ramos will mich suspendieren lassen. Zwölf Monate dienstfrei, ohne
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